Seit 126 Tagen findet in türkischen Gefängnissen ein Hungerstreik gegen die Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan und die lebensbedrohlichen Haftbedingungen statt. Tausende Gefangene beteiligen sich in Fünftagesschichten an dem Hungerstreik. Der Vorsitzende der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Ankara, Fatin Kanat, warnt im ANF-Gespräch angesichts der Dauer des Protests und der rechtswidrigen Haltung des AKP/MHP-Regimes vor den Folgen.
„Gefangene streiken für die Einhaltung des Gesetzes“
„In vielen Ländern der Welt gibt es Menschenrechtsverletzungen”, erklärt Kanat. „Aber die Verletzungen in der Türkei und im Mittleren Osten entwickeln sich aufgrund des Krieges in gravierender Weise. Es ist die Region, die in der die meisten Hungerstreiks durchgeführt werden. Wenn irgendwo auf der Welt ein Hungerstreik stattfindet, dann wird dieser zum Beispiel für eine Änderung eines Teils eines Gesetzes oder die Anerkennung von Rechten gemacht. Es gibt viele Dinge in Türkei, die eine Änderung von Gesetzen notwendig machen würden, aber der gegenwärtige Grund für die Hungerstreiks ist die Forderung, dass der Staat seine eigenen Gesetze einhalten soll. Wir haben es hier mit einem Staat zu tun, der seine eigenen Gesetze nicht befolgt. Menschen, denen Unrecht und Menschenrechtsverletzungen widerfahren sind, wollen, dass der Staat zuerst seine eigenen Gesetze und dann die internationalen Konventionen und die von den Vereinten Nationen definierten Rechte von Gefangenen einhält. Der Staat agiert illegal. Die Menschen, die er der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und der Illegalität beschuldigt, treten in den Hungerstreik und fordern, der Staat müsse wenigstens seine eigenen Gesetze befolgen. Die Hungerstreiks steuern mit dem 126. Tag auf einen kritischen Punkt zu.“
„Staat hat kein Interesse an einer Lösung“
Zu den Gründen des Hungerstreiks sagt der Menschenrechtler: „Der Hauptgrund des Hungerstreiks ist die Willkürbehandlung auf Imrali. Diese andauernde Praxis, die viele Dimensionen hat und nicht nur die kurdische Frage betrifft, gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Es gibt keine juristische Rechtfertigung für die Sanktionen, die Herrn Öcalan und den anderen Gefangenen auf Imrali auferlegt werden. Der Staat agiert in dieser Hinsicht illegal. Bei den Hungerstreiks geht es aber auch um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in jedem Gefängnis. Wir haben etwa 1.605 schwer kranke Gefangene. Wir versuchen, ihre Situation ständig zu verfolgen. Der Zustand dieses Landes ist im Allgemeinen furchtbar, aber in den Gefängnissen ist er besonders schlimm. Der türkische Staat hat einen bestimmten Weg in Hinsicht auf die kurdische Frage eingeschlagen. Vor allem nach dem Dolmabahçe-Protokoll versuchte das Regime, die kurdische Frage ohne Lösung zu belassen und die Kurden mit Kleinigkeiten zu beruhigen. Nach dem Ende des Friedensprozesses wurde ein Prozess eingeleitet, der schwere Konsequenzen und Opfer mit sich bringt und weiterhin andauert. Es ist eine Entscheidung des Staates, aber das Absurde ist, dass der Staat nicht einmal den Gesetzen und Konventionen folgt, die er selbst definiert und unterschrieben hat.“
„Verlogene Menschenrechtspolitik der EU“
Kanat wirft der EU eine „verlogene Menschenrechtspolitik“ vor. Er führt aus: „Wir betrachten das Agieren der EU als desinteressiert, schlampig und respektlos den eigenen Werten gegenüber. Angesichts der andauernden Flüchtlingsfrage verfolgt die EU eine Politik, ihre ‚ernsthafte Besorgnis‘ zum Ausdruck zu bringen. Sie hat Motive, die auf ihren Interessen beruhen, aber als Menschenrechtsverteidiger schämen wir uns im Namen der Menschheit für sie.“
„Befolgt eure Gesetze“
Kanat erläutert die Forderungen der Menschenrechtsorganisation IHD: „Wir appellieren an die Regierung, sich an ihre eigenen Gesetze zu halten, menschenrechtswidrige Praktiken umgehend zu beenden und ihre Institutionen, Beamte und Mitarbeiter vor weiteren Rechtsverletzungen zu warnen. Der Weg ist sehr einfach: es geht um die Beseitigung der Isolation auf Imrali und um andere Schritte, zu denen der Staat ohnehin verpflichtet ist. Die Regierung muss ihre Repressionspolitik aufgeben. Das ist die logischste Lösung angesichts des Hungerstreiks. Wir glauben nicht, dass Hungerstreik der richtige Weg ist. Die Menschen riskieren ihr eigenes Leben, aber wir respektieren die Entschlossenheit und den Kampf der Gefangenen für diese Rechte. Wir tun weiterhin unser Bestes, um die Situation öffentlich zu machen und eine positive Entwicklung zu befördern.“
„Das Hauptproblem ist die kurdische Frage“
Zum HDP-Verbotsverfahren erklärt Kanat: „Das Hauptproblem ist die kurdische Frage. Ohne die Frage zu lösen, ohne die richtigen Schritte zu gehen und ohne ein Ende der Paranoia gegenüber den Kurdinnen und Kurden wird weder die Flüchtlingsfrage noch die Menschenrechtsfrage oder die Demokratiefrage gelöst werden. Sie sind alle miteinander verbunden, und deshalb befindet sich auch die Wirtschaft auf dem Tiefpunkt. Die Pandemie wird bereits als Instrument für die staatliche Politik der Repression und Menschenrechtsverletzungen genutzt. Der Ausweg liegt hier vielleicht in einem möglichen Machtwechsel durch eine Wahl. Wir dürfen nicht aufhören, dafür zu kämpfen und den Weg, von dem wir wissen, dass er der richtige ist, weiterzugehen. Wir müssen weiter Demokratie und Freiheit fordern, die Menschenrechte verteidigen und wir dürfen die Menschen in den Gefängnissen niemals allein lassen."