Das „Gedächtnis von Licê“ ist tot

Von extralegalen Hinrichtungen bis zu Dorfverbrennungen, von Hochzeiten und anderen Feiern bis zum Tod des Mädchens Ceylan Önkol, das von einer Artilleriegranate zerfetzt wurde, schrieb Ahmet Tektaş alles nieder, was in Licê geschah. Nun ist er gestorben.

Er war einer der wichtigsten Zeitzeugen der staatlichen Verfolgung von Kurdinnen und Kurden in Licê (Provinz Amed/Diyarbakir). Nun ist Ahmet Tektaş im Alter von 90 Jahren gestorben. Dies bestätigten seine Angehörigen am Dienstag. Das „Gedächtnis von Licê“ sei gestern Abend in einem Krankenhaus in der Kreisstadt gestorben und bereits auf dem Friedhof Puneyn im Umland seines Dorfes beigesetzt worden.

Tektaş, der 1929 auf die Welt kam und im Dorf Xana Kelê (Çeper) aufwuchs, war 18 Jahre alt, als er begann, ein Tagebuch über die Geschehnisse in Licê zu führen. Damals noch Analphabet, ließ er sich den Moment notieren, der ausschlaggebend für den ersten Eintrag in seinem Tagebuch war: Die Geburt eines Kindes in einem Augenblick, in dem ein anderer Dorfbewohner verstarb. Kurze Zeit später lernte er als zwangsrekrutierter Wehrpflichtiger das Lesen und Schreiben.

 

Sodann begann er, all seine Erlebnisse selbst zu notieren. Von den Zuständen in Licê während der Militärjunta, den extralegalen Hinrichtungen und Zwangsvertreibungen durch die türkische Armee, den Dorfverbrennungen, dem verheerenden Erdbeben mit 2.000 Toten bis zum Tod von Ceylan Önkol, die als Zwölfjährige von einer aus einem Armeestützpunkt abgefeuerten Artilleriegranate zerfetzt wurde, schrieb Ahmet Tektaş alles nieder, was in Licê geschah. Auch wurde er Zeuge des Massakers von Licê, dem am 23. Oktober 1993 im Zentrum der Kreisstadt 16 Menschen zum Opfer fielen. Das Massaker ereignete sich damals kurz nach dem Tod des damaligen Brigadegenerals Bahtiyar Aydın. Der Provinzkommandeur der paramilitärischen Gendarmerie war von seinen eigenen Leuten erschossen worden. Das Militär setzte außerdem Hunderte Häuser und Arbeitsstätten in Brand.

Dokumentation: Ich schrieb die Wahrheit – Das Tagebuch von Licê

1997 wurde Ahmet Tektaş nach einer Razzia in seinem Dorf von der Jandarma festgenommen. Auf der Wache wurde er gefragt, warum er die Einträge in seinem Tagebuch gemacht habe. Er antwortete: „So ist es geschehen, und so habe ich es auch niedergeschrieben.“

Vor zehn Jahren begann Tektaş dem Journalisten und Filmemacher Ersin Çelik von seinen Erlebnissen zu erzählen. 2010 entstand daraus der Dokumentationsfilm „Min Rastî Nivîsand - Deftera Lîceyê“ (Ich schrieb die Wahrheit – Das Tagebuch von Licê“.

Die Dokumentation kann unter folgendem Link kostenlos online geschaut werden: Min Rastî Nivîsand - Deftera Lîceyê