„Der Gefängniswiderstand hat eine neue Radikalität erreicht“

Rozerîn Öcalan vom Gefängniskomitee der PKK-PAJK beschreibt den Widerstand politischer Gefangener in der Türkei als neues Niveau der Radikalität im Kampf gegen die Isolation.

Politische Gefangene kämpfen gegen Isolation

Der Protest der politischen Gefangenen aus der PKK und PAJK für die Freiheit von Abdullah Öcalan und eine Lösung der kurdischen Frage hat mit der Umwandlung der Hungerstreikstaffel in einen Kommunikationsboykott ein neues Niveau erreicht. Rozerîn Öcalan vom Gefängniskomitee der PKK-PAJK erklärte im ANF-Interview zu den Gefängniskämpfen in der Türkei: „Der Boykott von Familienbesuchen und Telefongesprächen und das Nichterscheinen vor Gericht stellen einen revolutionären Ansatz dar. Dieser Widerstand erfordert eine feste Haltung und einen starken Willen.“

Welche Auswirkungen hatte die Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan und eine Lösung der kurdischen Frage“ auf die herausragenden Ergebnisse der Kommunalwahlen in der Türkei?

Wir können ohne weiteres sagen, dass die Arbeit, die mit der Offensive „Freiheit für Abdullah Öcalan und eine Lösung der kurdischen Frage" geleistet wurde, den Wahlprozess positiv beeinflusst und geprägt hat. Diese Arbeit fand unter aktiver Beteiligung von Hunderten von Institutionen, bekannten Persönlichkeiten und Menschen auf der ganzen Welt statt. Unsere Bewegung beteiligte sich auf strategischer Ebene an der Offensive. Die Ankara-Aktion der Genossen Rojhat und Erdal und die revolutionären Operationen der Guerilla haben eine große Kampfmoral in der Gesellschaft geschaffen. Auch der in den Kerkern geleistete Hungerstreik und die unter der Führung unserer Mütter draußen initiierten Mahnwachen für Gerechtigkeit, der Freiheitsmarsch in Nordkurdistan, der 8. März und die großartigen Newroz-Feiern hatten einen großen Einfluss auf das Ergebnis dieser Wahl.

Die Tatsache, dass Rêber Apo [Abdullah Öcalan] auf die Tagesordnung gesetzt wurde, hat sich im Wahlkampf positiv ausgewirkt. Der Wahlkampf hat mal wieder gezeigt, dass man keine Ergebnisse erzielen kann, wenn man Rêber Apo nicht auf die Tagesordnung bringt und sich nicht auf ihn stützt. Die Mauern der Angst wurden in erheblichem Maße überwunden, an die Stelle der Verzweiflung ist der Glaube getreten, dass der Kampf gewonnen werden kann. Der Serhildan [Volksaufstand] von Wan hat es auf spektakuläre Weise demonstriert. Alle Einschüchterungen und verzweifelten Versuche des Spezialkriegs wurden zunichte gemacht. Unter der Führung der kurdischen Jugendlichen und Frauen entstand wieder ein starker Widerstandsgeist.

Auch unsere Genossinnen und Genossen in den Kerkern schlossen sich der Offensive an, indem sie ab dem 27. November einen Hungerstreik begannen. Es war wichtig, dass sich die Gefängnisse schnell organisierten und ihren Platz in der Offensive, ganz im Sinne der Widerstandstradition unserer Bewegung, einnahmen. Trotz aller Repressalien, schwieriger Bedingungen und aller Arten von Angriffen haben sie nicht gezögert, Widerstand gegen die Totalisolation von Rêber Apo zu leisten. Mit dem von ihnen initiierten Hungerstreik haben sie einen wesentlichen Beitrag zur Offensive geleistet und eine Avantgarderolle eingenommen, da sie so eine große Wirkung auf die Öffentlichkeit erzeugten. Die Gefangenen trugen so auch zum Erfolg bei den Kommunalwahlen bei.

Der heldenhafte Widerstand der Guerilla in den Bergen und die revolutionären Operationen, die unmittelbar nach der Bekanntgabe der Offensive seit Ende vergangenen Jahres durchgeführt wurden, haben den „Niederwerfungsplan“ des Feindes vollständig vereitelt. Jetzt ist der Kampfeswille der türkischen Armee gebrochen, die moralische und psychologische Überlegenheit ist vollständig auf die Guerilla übergegangen. Der türkische Staat konnte dies trotz seines ganzen Spezialkriegsapparats und seiner Medien nicht verhindern, und der von der Guerilla an den Tag gelegte apoistische Geist hat die Gesellschaft wieder lebendig, moralisch und widerständig gemacht und die Wahlergebnisse maßgeblich beeinflusst.

Ab dem 4. April wurde der Hungerstreik in einen Kommunikationsboykott umgewandelt. Wie bewerten Sie das?

Es ist die zweite Stufe der Offensive. Es handelt sich um ein höheres Niveau. Es ist von größter Bedeutung, dass unsere Freundinnen und Freunde in den Gefängnissen zum ersten Mal auf dieser Ebene einen solch radikalen Prozess unter der Parole „Ich entscheide mich dafür, unter den gleichen Bedingungen zu leben wie Rêber Apo“ begonnen haben. Der Abbruch aller Verbindungen zur Außenwelt, der Verzicht auf Familienbesuche, das Telefonrecht und das Erscheinen vor Gericht, aller Repression und Isolation zum Trotz, ist ein revolutionärer Ansatz, der eine feste Haltung und einen starken Willen erfordert.

Es ist bekannt, dass der AKP/MHP-Faschismus seit 2014 all seine Macht und Mittel mobilisiert hat, um die Freiheitsbewegung zu liquidieren. Die Kerker sind einer der wichtigsten Bereiche dieses Angriffs. An diesem Ort versucht sich der Faschismus in jeder Hinsicht zu institutionalisieren und genau hier initiierten unsere Freundinnen und Freunde die zweite Etappe ihres Widerstands. Das ist die größte Antwort auf den Faschismus. Deshalb begrüßen wir diesen zweiten Schritt und wir nehmen ihn als eine revolutionäre Entscheidung zur rechten Zeit und am rechten Ort an.

Rêber Apo hat selbst unter den Bedingungen der unerbittlichsten Folter an einem Ort wie Imrali seinen Willen und seine Entschlossenheit unter Beweis gestellt. Er verbringt jeden Moment im größten Kampf gegen die Hegemonialmächte. Imrali ist das Zentrum des ideologischen und tatsächlichen Widerstands sowohl gegen den türkischen Faschismus als auch gegen das System der kapitalistischen Moderne. Unsere Führung führt jeden Aspekt unseres Kampfes auch in der Isolation weiter. Rêber Apo sagte den internationalen Hegemonialmächten: „Ich werde keine Forderungen für mich an euch stellen. Macht was ihr wollt, ich werde auch gegenüber den unerträglichsten Bedingungen die Widerstandskraft des Willens und Kraft eines freien Lebens zeigen. Ich werde gegen die gnadenloseste Situation, gegen euren Zwang Stellung beziehen und dem meine entschlossene Haltung entgegen setzen. Ich werde keinen Moment der Schwäche zeigen. Während ihr euer Ziel erreichen wollt, mich mit eurem Foltersystem auf die gewünschte Linie zu bringen, werde ich auf der Grundlage des demokratisch-ökologischen, frauenbefreienden Paradigmas Widerstand leisten.“

In diesem Sinne ist es sehr wichtig, dass unsere Freundinnen und Freunde im Gefängnis jeden Moment und jeden Tag mit einer solchen Entschlossenheit verbringen und eine Widerstandshaltung im Sinne der Realität von Rêber Apo und seinen Bedingungen entwickeln. Sie zielen damit darauf ab, Rêber Apo noch besser zu verstehen, nehmen ihre Verantwortung im Rahmen der aktuellen Phase wahr und spielen eine Führungsrolle.

Diese zweite Phase sollte auch als praktische Selbstkritik in Bezug auf unzulängliche Genossenschaftlichkeit im Angesicht der Realität von Rêber Apo verstanden werden. Unter Kerkerbedingungen, mit denen alle Arten von Unterdrückung und Folter umgesetzt werden, ist die Bereitschaft, trotz alledem 24 Stunden am Tag so wie Rêber Apo zu leben, eine sehr bedeutsame und würdige Haltung. In dieser ehrenhaften Haltung müssen wir den revolutionären Geist von Genossen und Genossinnen wie Mazlum Doğan, Hayri Durmuş, Kemal Pir und Sakine Cansız sehen.

Was waren die Auswirkungen der Mahnwachen für Gerechtigkeit der Angehörigen? Wie wird der Widerstand der Angehörigen in der vor uns liegenden Zweit weitergehen?

Die von Müttern initiierten Mahnwachen für Gerechtigkeit waren in diesem Prozess wichtig. Die Tatsache, dass sie den Widerstand von Rêber Apo und unserer Freundinnen und Freunde im Gefängnis auf der Tagesordnung hielten, wirkte sich positiv aus. Durch die Aktionen der Mütter entstand ein Gefühl von Gesellschaftlichkeit und Solidarität. Die Menschen begannen sich zu hinterfragen und sich ihrer Pflichten und Verantwortung bewusst zu werden. Das Wichtigste war, dass alle offen für Rêber Apo eintraten und seine Freiheit ohne Furcht zum Ausdruck brachten. Dies wirkte sich nicht nur auf die Beteiligten selbst, sondern auf die gesamte Gesellschaft aus. Diese entschlossene Haltung und der Aktivismus der Mütter spielten eine wichtige Rolle sowohl beim allmählichen Wachsen der Offensive, bei der Mobilisierung in Nordkurdistan als auch bei den Wahlergebnissen und der Niederlage des AKP/MHP-Faschismus.

In der Presse war zu lesen, dass unsere Mütter ihre Mahnwachen für Gerechtigkeit auf die nächste Stufe heben werden. Dies ist ein sehr wichtiger und sinnvoller Schritt. In der ersten Phase ging es darum, eine Agenda zu erstellen. Wir denken, dass sie jetzt in die Planung gehen werden, um den Faschismus weiter unter Druck zu setzen und Ergebnisse zu erzielen. Es scheint, dass die Mütter erneut diesen Prozess anführen werden. Und dieser wird effektiver und massiver werden, und nicht in geschlossenen Räumen, sondern auf den Straßen und Plätzen stattfinden. Die Forderung nach der Freiheit von Rêber Apo wird überall ohne Furcht erklingen. Natürlich ist es eine grundlegende Aufgabe aller Menschen, die ihr Land lieben, die Mütter nicht allein zu lassen und sich auf ihre Seite zu stellen.

Wir wissen, dass die Mütter, die Jugend Kurdistans und die mit Freiheitsbewusstsein bewaffneten Frauen immer furchtlos an der Spitze unseres Kampfes gestanden haben. Von nun an werden sie wieder die wichtigsten Avantgardekräfte sein. Es waren immer die Mütter, die die Linie des kurdischen Freiheitskampfes weitergetragen haben. Die Tradition des Widerstands ist bis heute ungebrochen und wächst ständig, auch dank dieser entschlossenen Haltung und Einstellung unserer Mütter. Aus diesem Grund waren unsere Mütter immer eine Quelle des Stolzes, der Kraft und der Moral. Wir werden uns bemühen, ihrer stolzen Haltung würdig zu sein und den Kampf weiterzuentwickeln und zu einem Ergebnis zu führen.

Welche Appelle richten Sie an den Widerstand?

Die Überzeugng, dass der AKP/MHP-Faschismus durch den in Wan begonnenen Widerstand und die große Niederlage, die er erlitten hat, einen Schritt zurück machen wird, hat sich in allen Bereichen gefestigt. Wir können sagen, dass sich die pessimistische Atmosphäre, die durch den Spezialkrieg in unserer Gesellschaft entstanden ist, vollständig verflüchtigt hat. Dieser Widerstand hat eine Atmosphäre eines vollständig demokratischen Prozesses in der Türkei und in Kurdistan geschaffen. In diesem Geist rufen wir alle dazu auf, sich um die Offensive zusammenzuschließen. Alle sollten die Aufgabe erfüllen, Rêber Apo und den Widerstand unserer Freundinnen und Freunde im Gefängnis zu verteidigen und das durch Aktionen zu demonstrieren.

In diesem Prozess sollten die Verteidigungsschriften von Rêber Apo überall gelesen und diskutiert werden. Die Bemühungen, sie zu verstehen, sollten verstärkt werden. Alle sollten in der Lage sein, sich auf der Grundlage ihres Wissens an diesem Prozess zu beteiligen. Das geschieht, indem man den Apoismus lebt und am Leben erhält, indem man ihn kennt und umsetzt. Das ist auch eine wichtige Aufgabe und Verantwortung im Kontext der Bewegung.