Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat in ihrem Positionspapier vom 1. Juni eine Aktionskampagne zur Stärkung des demokratischen Widerstands bis zum Weltfriedenstag am 1. September angekündigt. Der Sternmarsch am 15. Juni auf Ankara war die erste Aktion in diesem Rahmen. Dabei zogen HDP-Abgeordnete von Edirne im Westen der Türkei und Colemêrg (türk. Hakkari), an der türkischen Ostgrenze in Nordkurdistan gelegen, in einem „Demokratiemarsch gegen den Putsch“ nach Ankara. Danach begann die Phase der „Demokratieversammlungen“. HDP-Politiker*innen ziehen nun von Stadt zu Stadt und organisieren dort trotz der Behinderungen durch die Pandemie Volksversammlungen, um mit Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen über Frieden und Demokratisierung zu sprechen und ihre Meinungen zur Ausgestaltung eines Demokratisierungsprozesses aufzunehmen. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und Abgeordnete Sezai Temelli hat sich im ANF-Interview zu dem Verlauf der Kampagne geäußert.
Temelli erklärt, dass die AKP versuche, ihr Überleben durch Kriegspolitik und Kurdenfeindschaft zu sichern und dass dies der einzige Grund für Investitionen in Rüstung und die Kriegsindustrie sei. Er betont, die HDP und ihr Kampf stellten die einzige Alternative zur Politik der AKP dar.
Das Politikverständnis der HDP hat die Regierung in Angst versetzt
Temelli fährt fort: „Der dritte Weg ist auch eine Kritik am politischen System in der Türkei. Es handelt sich um einen Weg jenseits monistischer Konzepte. Die politische Opposition in der Türkei fügt sich ausnahmslos ins staatliche Denken ein. Die HDP und der HDK [Demokratischer Kongress der Völker] haben das analysiert und auf der Grundlage der Idee, dass eine andere Politik, Opposition und Art zu regieren möglich ist, den Diskurs weiterentwickelt.
Dies ist natürlich aus unserem Verständnis von radikaler Demokratie, demokratischer Nation und demokratischer Gesellschaft heraus entstanden. Wir sind davon überzeugt, dass eine Demokratisierung nur über die Entwicklung lokaler Formen von Demokratie möglich sein wird. Deswegen war unsere Idee so stark, dass sie den Staat und die Regierung erschreckte. Als HDP werden wir das weiterhin zur Sprache bringen und den Kampf ausweiten. Demgegenüber wird die Regierung in ihrer Furcht ihre Blockadehaltung und ihre Gewalt weiter steigern. Aber natürlich, die Unterdrückung wird enden und die Regierung wird gehen. Aber dafür müssen wir unseren Widerstand verstärken.
Alle Arbeiten mit und in der Gesellschaft
Dafür müssen wir alle unsere Arbeiten innerhalb und mit der Bevölkerung machen. Wir müssen Allianzen bilden, die wirklich zu einer gesellschaftlichen Versöhnung führen. In diesem Sinne haben wir zunächst die Demonstration nach Ankara für Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit durchgeführt. Jetzt treffen wir uns überall mit demokratischen Organisationen und der Bevölkerung, um ein Widerstandsnetzwerk aufzubauen.
Unser Hauptziel ist eine wirkliche Demokratisierung der Türkei. Auch die Frage, wie diese Demokratisierung ausgestaltet werden soll, ist Teil der aktuellen Kampagne. In diesem Rahmen wollen wir mit der Bevölkerung zusammentreffen. Es ist ein ehrgeiziges Projekt. Unser Ehrgeiz entspringt aus dem Konzept des dritten Wegs. Denn unser Verständnis von Politik ist es, eine Antwort auf die Erwartungen der Gesellschaft in der Türkei zu geben. Wir sehen bei unseren Arbeiten, inwieweit die Gesellschaft im Einklang mit unseren Ideen und unserem Verständnis ist.“
Wir konnten noch keine unserem Denken angemessene Organisierung aufbauen
Temelli spricht außerdem über Repression. Er berichtet, dass die staatlichen Angriffe insofern erfolgreich waren, als dass sie dafür gesorgt haben, dass die HDP an verschiedenen Stellen keinen ausreichenden Kontakt mit der Bevölkerung aufbauen konnte. Es gäbe aber auch interne Gründe dafür. Der Abgeordnete führt aus: „Ich kann sagen, dass dieses Problem sowohl aus äußeren Faktoren als auch aufgrund interner Strukturen entstanden ist. Unser Hauptproblem ist, dass wir es bis heute nicht ausreichend geschafft haben, eine unserem Denken entsprechende Organisierung aufzubauen. Ich sehe die Wurzel des Problems hierin. Deswegen haben wir eine Organisierungskonferenz durchgeführt.
Wir haben uns intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Denn wenn wir von einer demokratischen Gesellschaft sprechen und dies zu unserem wichtigsten Referenzpunkt machen, dann müssen wir uns auch diesem Verständnis entsprechend organisieren. Wenn wir dies nicht tun, dann werden die Beziehungen zwischen Partei und Volk immer distanziert bleiben. Sie werden sich nur auf der Basis politischer Strukturen entwickeln und sich darauf beschränken. Dies zu überwinden und die Gesellschaft wirklich in das organisatorische Leben einzubeziehen, ist nur mit der Politisierung der Gesellschaft möglich. Wir müssen Mechanismen schaffen, um die Gesellschaft zu politisieren.“