Mithat Sancar, Ko-Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hat sich auf der Fraktionssitzung am Dienstag in Ankara zu den aktuellen politischen Entwicklungen geäußert und seine Ansprache mit einer Bewertung des „Demokratiemarsches“ begonnen. „Dieser Marsch war für alle gesellschaftlichen Gruppen, die keine Luft mehr bekommen. Er war für die Jugend, für die Frauen, für die Arbeiterinnen und Arbeiter, für die Armen“, sagte Sancar.
Die HDP ist in der vergangenen Woche aus dem Westen und dem Osten des Landes über mehrere Städte nach Ankara gezogen und wurde bei ihrem „Demokratiemarsch“ massiv von Sicherheitskräften behindert: „Wir sind blockiert und eingekreist worden, wir sollten eingesperrt werden. Manchmal waren auf der Straße mehr Fahrzeuge der Sicherheitskräfte als unsere eigenen Autos. Überall, wo wir hingegangen sind, ist alles getan worden, um ein Zusammentreffen mit der Bevölkerung zu verhindern. Es war wohl nicht allen klar, dass ein Zusammentreffen nicht nur über physischen Kontakt möglich ist. Wir treffen mit der Bevölkerung auch über unsere Stimmen, unsere Blicke und unsere Herzen zusammen.“
„Wer seine Rechte einfordert, wird zum Terroristen erklärt“
„Unseren Marsch haben wir vor allem für die Jugend gemacht, denn die Zukunft geht vor allem die jungen Menschen etwas an. Wir sind marschiert, damit die gesellschaftlichen Ressourcen nicht in Krieg und Lobbyismus investiert werden, sondern in die Jugend“, sagte Sancar weiter und wies darauf hin, dass die Regierung Widerspruch und die Forderung nach Rechten fürchtet. Wer widerspreche und Rechte einfordere, werde zum „Verräter“ oder „Terroristen“ erklärt:
„Wie können zwei Drittel der Menschen eines Landes als Terroristen abgestempelt werden? Das ist ein offenes Eingeständnis der Angst vor der Bevölkerung. Aus diesem Grund wird alles Erdenkliche getan, um alle abzuwürgen, die auf die Straße gehen und widersprechen. Wir sind trotzdem marschiert, denn die Wände der Angst müssen überwunden werden.“
Angst essen Seele auf
„Es gibt einen Film, den ich sehr mag, ein deutscher Film. Er heißt ‚Angst essen Seele auf‘. Es lassen sich kaum bessere Worte finden, um die Situation der Regierung und all derer, die Angst haben, zu beschreiben. Wenn wir Angst bekommen, wird auch unsere Seele aufgegessen, wir werden seelen- und willenlos. Aus diesem Grund wird unser Marsch gegen die Mauern der Angst weitergehen.“
Mithat Sancar verwies auf den am Dienstag nach erheblichen Behinderungen durch die Behörden in Ankara abgeschlossenen Marsch der Anwaltskammern und sagte: „Die Anwältinnen und Anwälten marschieren, weil sie den ihnen aufgedrängten Eisenkäfig ablehnen.“ Der Sternmarsch der Vorsitzenden von 41 Anwaltskammern fand von Freitag bis Dienstag unter dem Motto „Freiheit für die Verteidigung“ statt und richtete sich gegen ein Gesetzesvorhaben, mit dem die Kammern unter staatliche Kontrolle gebracht werden sollen.
Sich im Kampf um Würde positionieren
„Wenn wir die Regierung als Putschisten bezeichnen, finden manche das sehr übertrieben. Das ist jedoch die Absicht dieser Regierung: Ein Putschsystem. Wenn eine Regierung den Willen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen ausschalten will, ist das ein Putsch. Auch das Gesetzesvorhaben gegen die Anwaltskammern zeugt von einem Putschisten-Verständnis. Das verbergen die Regierungssprecher ja auch gar nicht. Sie sagen ganz offen, dass sie alle zum Schweigen bringen wollen, die ihnen widersprechen. Wenn sie das so offen sagen können, müssen wir mindestens ebenso mutig sein. Alle, denen Selbstbestimmung und Würde aberkannt wird, müssen ihren Mut offen zeigen. Die Anwaltskammern haben das getan. Sie haben sich in dem Kampf um Würde eindeutig positioniert.“
Den herrschenden Verhältnissen widersprechen
Der HDP-Vorsitzende appellierte erneut an alle Gesellschaftsteile: „Kommt, wehren wir uns alle gemeinsam, marschieren wir für wirkliche Gerechtigkeit. Unsere Stimmen werden sich treffen. Selbst wenn eine einzige Person in dunkelster Finsternis schreit, wird ihre Stimme gehört werden. Es gibt Tausende Wege, den herrschenden Verhältnissen zu widersprechen. Für Menschen mit Würde gibt es viele andere und sehr bunte Wege außerhalb von Gehorsam und Kapitulation. Hoffnung kommt von Überzeugung, Hoffnungslosigkeit führt zur Kapitulation.“