Corona: 76 weitere Tote in der Türkei

In der Türkei sind binnen Tagesfrist weitere 76 Menschen am neuartigen Coronavirus verstorben. Damit stieg die Gesamtzahl der offiziell erfassten Todesopfer durch die Lungenkrankheit Covid-19 auf 725.

Die Zahl der Coronavirus-Fälle in der Türkei ist auf mehr als 34.000 gestiegen. Innerhalb von 24 Stunden seien 3.892 Menschen positiv getestet worden, teilte Gesundheitsminister Fahrettin Koca nach einer Sitzung des wissenschaftlichen Beirats mit. Die Zahl der offiziell gemeldeten Fälle stieg damit auf 34.109. An einem Tag verstarben demnach 76 Menschen an der Lungenkrankheit Covid-19, die Gesamtzahl der Todesopfer stieg damit auf 725. Bisher wurden in dem Land mit 83 Millionen Einwohnern 222.868 Tests durchgeführt.

111 infizierte Gesundheitsbedienstete in Izmir

Die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) und der Menschenrechtsverein IHD teilten heute in einer gemeinsamen Erklärung mit, dass ein Arzt im Gefängnis von Aliağa-Şakran in der westtürkischen Provinz Izmir positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Er soll noch bis vor einer Woche regelmäßigen Kontakt zu den Gefangenen gehabt haben, erklärte der Solidaritätsverein von Gefangenenangehörigen TUHAY-DER. Wir hatten bereits vor zweieinhalb Wochen von ersten Verdachtsfällen in dem Strafvollzugskomplex berichtet. Türkische Behörden hielten sich bis zuletzt bedeckt. Laut den jüngsten Zahlen der Ärztekammer Izmir sind in der gesamten Stadt mindestens 111 Gesundheitsbedienstete mit dem Virus infiziert. Bei 69 Betroffenen handele es sich um Ärzte, 27 weitere seien Krankenschwestern beziehungsweise Krankenpfleger. Inzwischen sind mehr als 600 Beschäftigte im Gesundheitswesen der Türkei infiziert.

Krise zu lange ignoriert

Die Türkei hat die Coronakrise viel zu lange ignoriert und erst am 11. März ihren ersten Fall gemeldet. Bis dahin hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan rituelle Gebetswaschungen als Schutzmaßnahme vor einer Infektion angepriesen und argumentiert, dass alle Bürgerinnen und Bürger für ihre eigene Quarantäne zu sorgen hätten. Der Staat sei nicht verantwortlich. Mit steigenden Fallzahlen änderte sich zwar die Haltung der türkischen Regierung, eine transparente Reaktion auf die Pandemie der politischen Verantwortlichen des autoritär regierten Landes gibt es aber dennoch nicht. Lange überwogen in den regierungsnahen Medien  sensationsbetonte Berichte zur Situation in anderen Ländern, kritische Beiträge in den sozialen Netzwerken wurden gelöscht und ihre Verfasser wegen „Volksverhetzung“ verhaftet. Die Türkische Ärztevereinigung TTB schätzt, dass die tatsächlichen Corona-Opfer die Zahlen der Regierung um ein weites übersteigen.

Anzeige wegen Kritik an Corona-Umgang der Regierung

Zuletzt wurde Fatih Portakal, ein prominenter Moderator, wegen seiner Kritik am Umgang der Regierung mit der Coronakrise von Erdoğan persönlich wegen des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung angezeigt. Hintergrund ist ein Tweet des Moderators, in dem er ironisch eine zuvor von Erdoğan gehaltene Rede kommentiert. Portakal deutete mit dem Beitrag an, dass der AKP-Chef womöglich schon bald an die Ersparnisse der Bürger auf den Banken wolle, nachdem er sie schon zu Spenden aufgerufen hatte. Die Bankenaufsichtsbehörde BDDK erklärte daraufhin, sie habe ebenfalls eine Beschwerde gegen Portakal eingereicht, weil dieser mit seinen Aussagen das Ansehen der Bank beschädige. Erdoğan hatte vergangene Woche zu Spenden für die „Kampagne der nationalen Solidarität“ aufgerufen, um wirtschaftlich Benachteiligte zu unterstützen. Er selbst war solidarisch genug, um auf sieben Monatsgehälter zu verzichten. Die Spendengelder fließen direkt auf die Konten des Ministeriums für Familie, Arbeit und soziale Dienstleistungen. 

Erdoğan: Die Räder der Wirtschaft müssen sich weiterdrehen

Inzwischen werden teils diskriminierende Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Zunächst wurden Ausgangssperren für Menschen über 65 Jahre und chronisch Kranke verhängt. Seit dem Wochenende müssen sich auch junge Menschen unter 20 Jahren an die Ausgangssperre halten – also vor allem die Bevölkerungsgruppen, die mehrheitlich nicht arbeiten. Das kommt nicht von ungefähr: In der Türkei trifft die durch das weltweit grassierende Coronavirus ausgelöste Pandemie eine bereits schwer angeschlagene Wirtschaft, unter anderem durch eine Währungskrise im Jahr 2018. Jetzt ist die Lira wieder abgerutscht. Und die für das Land so wichtige Tourismusindustrie, für die über Ostern die Saison beginnen sollte, dürfte zumindest bis Spätsommer harte Einbrüche vermelden. 

Bewegungsfreiheit in 31 Metropolen eingeschränkt

Seit Samstag wurde zudem in 31 Städten, zu denen neben den türkischen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir auch zahlreiche kurdische Städte wie Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Riha (Urfa) zählen, für zwei Wochen untersagt, mit dem Auto hinein- oder hinauszufahren. Ausnahmen gelten nur für dringende Fälle. Außerdem ist das Tragen eines Mundschutzes in allen Geschäften und auf Märkten seit dem Wochenende verpflichtend.

„Geschwisterkampagne“ der HDP für Bedürftige

Zeitgleich startete die Demokratische Partei der Völker (HDP) eine „Geschwisterkampagne“ für Bedürftige und Einkommensschwache. Durch Familienpatenschaften soll die Versorgung von Menschen, die über geringes oder gar kein Einkommen oder über keine finanziellen Rücklagen verfügen, Beistand geleistet werden, „damit die ökonomische Durststrecke überstanden werden kann“. In einigen Städten waren zuvor andere Kampagnen der HDP von staatlicher Seite verboten worden.

Debatte um Gesetzänderung begonnen

Im Parlament wurde unterdessen am Dienstag mit der Debatte über den umstrittenen Gesetzentwurf zur vorzeitigen Entlassung von 90.000 Gefangenen begonnen. Mit der sogenannten Corona-Amnestie soll offiziell das Strafvollzugsgesetz verbessert werden, für politische Gefangene wäre eine Gesetzänderung ein Freifahrtschein in den Tod. Der Entwurf schließt wegen Terrorvorwürfen inhaftierte Menschen wie beispielsweise die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, Selahattin Demirtaş und den renommierten Kulturmäzen Osman Kavala aus. Auch Regierungskritiker und Journalisten wären von der Regelung ausgenommen.