„Die Krise wird sich vertiefen, solange die Isolation andauert“

„Die AKP hat die Isolation Abdullah Öcalans zur Grundlage der Fortsetzung ihres politischen Systems gemacht. Wird die Isolation nicht aufgehoben, erwartet uns eine massive Krise“, warnt die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan.

Die kurdische Politikerin und Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Pervin Buldan, hat sich im Interview mit ANF über die Hintergründe der Verschleppung Abdullah Öcalans und die andauernde Isolation des kurdischen Vordenkers auf Imrali geäußert. Buldan warnt vor einer massiven Krise, sollten die erschwerten Haftbedingungen in dem Inselgefängnis weiter anhalten.

Was waren die Ziele des türkischen Staats und der an der Entführung Öcalans beteiligten Mächte und konnten diese erreicht werden?

Die Ziele des Komplotts waren eine Neuordnung des Mittleren und Ostens und vor allem Syriens, die Türkei abhängig vom internationalen Herrschaftssystem zu machen, einen kurdisch-türkischen und kurdisch-arabischen Krieg anzufachen und den Kampf des kurdischen Volkes um Freiheit, Frieden und Demokratie zu vernichten.

Öcalan machte den Beteiligten einen Strich durch die Rechnung. Er verhinderte dies mit seiner Entschlossenheit zum Frieden und zu einer Lösung. Imrali wurde zu einer Brücke des Friedens zwischen den Völkern. Das von Öcalan vorgeschlagene Friedensprojekt entwickelte sich sowohl für die Türkei als auch für den gesamten Mittleren Osten zu einer großen Kraft.

Mit dem Komplott wurde außerdem die Vernichtung des politischen Willens der Kurden und der kurdischen Frage geplant. Auch das war nicht erfolgreich. Im Gegenteil, das kurdische Volk wurde mit seinem großen politischen Bewusstsein und seinem entschlossenen Kampf um Demokratie und Frieden eine gewaltige Kraft des Wandels, sowohl für die Türkei als auch für den Mittleren Osten.

Am 9. Oktober 1998 hatte man den Willen Syriens gebrochen und durch die erzwungene Ausreise Öcalans versucht, das kurdische Volk zu isolieren. Durch den Kampf der Kurden gegen den IS und für den Aufbau einer freien Gesellschaft wurden sie aber zu einem weltweit mit großem Respekt betrachteten Volk. Auch in diesem Sinne ist das Komplott gescheitert. Es wurde deutlich, dass nicht das internationale System und seine Nationalstaaten, welche die Völker trennen und gegeneinander in den Krieg führen, sondern der Aufbau eines demokratischen Lebens der Völker das stärkste Lösungsmodell darstellt.

Es ist mittlerweile bewiesen, dass weder im Mittleren Osten noch in Syrien oder in der Türkei ein Frieden oder ein Ausgleich möglich ist, ohne den Willen des kurdischen Volkes zu beachten. Die Türkei und Syrien sind die blutigsten Beispiele hierfür.

Der Punkt, in dem das Komplott erfolgreich war, ist, dass das politische und ökonomische System in Abhängigkeit der internationalen Mächte geraten ist. Die Türkei ist zu einer Spielfigur geworden. Die auf Kurdenfeindlichkeit basierende politische Sackgasse, in die sich die Türkei manövriert hat, hat sie weltweit isoliert und zu einer Gefangenen der internationalen Mächte gemacht.

Wie war es möglich, das Komplott so weitgehend scheitern zu lassen?

Das internationale Komplott ist nicht vorbei. Es geht durch die Totalisolation weiter. Indem das Tor von Imrali verschlossen bleibt, wird versucht, die Forderungen der Völker nach Demokratie, Frieden und Freiheit zu isolieren. Die Demokratie, das Recht und die Gerechtigkeit werden isoliert. Deshalb ist die Zerschlagung der Isolation, die Öffnung der Schleusen zum Frieden und der Türen von Imrali für demokratische Verhandlungen eine historische Notwendigkeit und unser aller Verpflichtung.

Als Sie sich mit Öcalan als Teil der „Imrali-Delegation“ trafen, hat er da vorausgesehen, dass es wieder zur Isolation kommen könnte?

Herr Öcalan hat immer wieder betont, dass konkrete Schritte unabdingbar sind, damit der Prozess weitergehen kann. Bei den letzten Treffen hat er immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass er einen Dialogprozess für notwendig hält. Bei unserem letzten Gespräch sagte er: „Wenn es keine konkreten Schritte gibt, dann wird der Prozess enden und Ihr werdet nicht mehr herkommen können.“ Die Phase hat sich entwickelt, wie er es vorhergesehen hatte. Die Regierung hat keinen einzigen Schritt hin zu einer dauerhaften Lösung unternommen. Das Dolmabahçe-Abkommen wurde in den Müll geworfen und der Dialog war zu Ende. So wurde die Grundlage für die weitere Isolation gelegt.

Die Isolation auf Imrali wird als System oder als Regime bezeichnet. Warum wendet die Regierung die Isolation an?

Die Isolation ist das Ergebnis des Verharrens auf der Politik der Lösungsverweigerung. Das internationale System, wie auch der von diesem System abhängige Staat und dessen Herrschaftsmentalität, betrachten einen türkisch-kurdischen Frieden, einen Frieden im Mittleren Osten und die Entwicklung eines demokratischen Prozesses im Mittleren Osten als ein Hindernis für die Umsetzung ihrer Interessen. Wenn die Völker ihre demokratische Zukunft selbst in die Hand nehmen, dann bedeutet dies das Ende der Interessenspolitik der Nationalstaaten. Weil sie dies wissen, verhindern sie eine demokratische Lösung und betreibe eine aggressive Kriegspolitik. Die monistische Herrschaft in der Türkei bedient sich ebenfalls dieser Politik und versucht ihre Herrschaft durch Faschismus an der Macht zu halten. Deswegen hat der Staat die Isolation eingesetzt. Er hat die gesamte Gesellschaft, die Demokratie und die Opposition isoliert. Die Demokratie, das Recht, das Parlament, die Kommunalverwaltungen, die Zivilgesellschaft, die Gewerkschaften, die Frauen und die Jugend, sie alle wurden isoliert. Die AKP/MHP-Allianz hat Isolation, Zwangsverwaltung, Festnahmen und Inhaftierungen und jegliche autoritäre und repressive Praxis zur Grundlage der Fortsetzung ihres politischen Systems gemacht. Die Ein-Mann-Herrschaft, die als Präsidialsystem bezeichnet wird, ist eigentlich auch auf dieser Isolation aufgebaut. Die AKP/MHP- Allianz basiert auf Kurdenfeindschaft und Isolation. Sie hat gegen eine Lösung, den Frieden und eine Demokratisierung ein monistisches Regime errichtet. Aus diesem Grund benutzt sie die Isolation.

Was sind Ihrer Meinung nach die regionalen Auswirkungen der Isolation?

Die Dialogphase, die zwischen den Jahren 2013 und 2015 begann, wurde von Seiten der Regierung beendet. Wenn eine friedliche Lösung der kurdischen Frage nicht verhindert worden wäre, wenn die Regierung auf Öcalan gehört hätte, dann hätte das entfesselte Lösungspotential auch Syrien und den gesamten Mittleren Osten im Sinne einer Demokratisierung erfassen können. Es hätte einen demokratischen Frühling für den ganzen Mittleren Osten und die Türkei gegeben. Die Türkei wäre nicht Kriegspartei in Syrien geworden und hätte nicht Dschihadisten unterstützt. Es wäre nicht noch mehr Blut in Syrien vergossen worden und es hätte dort ein Demokratisierungsprozess eingesetzt. Aber die internationalen Mächte, die ihre Vorherrschaft in Syrien ausbauen wollen, haben die demokratischen Lösungsalternativen verworfen und ihre eigene Kriegspolitik ins Feld geführt. Der türkische Staat und die Regierung haben sich ebenfalls darauf gestützt und darin ihre Zukunft gesehen.

Der politische Preis des Beharrens auf Krieg ist ein permanenter Putschzustand. Es handelt sich um ein System, das seine Ausweglosigkeit und die Isolation in der gesamten Region verbreitet. Das größte Hindernis heute für Frieden in Syrien ist die Isolation und die mit der Isolation fortgeführten Kriegspolitik. Die Türkei ist vollkommen in dieser Situation gefangen. Öcalans Warnungen haben sich bewahrheitet. Die Regierung, die das Dolmabahçe-Abkommen in den Müll geworfen hat, verliert im Sumpf von Idlib und in Libyen. Weil sie keinen Dialog aufbauen konnten, sind sie am einen Tag in Moskau und am anderen in Washington. Aber der Weg zu einer Lösung ist klar. Die Tore von Imrali müssen geöffnet und zu Verhandlungen zurückgekehrt werden. Innerhalb von zehn Tagen würde sich das politische Klima verändern und ein demokratischer Prozess für die Türkei, wie auch für Syrien beginnen.

Mit dem von Leyla Güven angeführten Hungerstreik wurden Besuche auf Imrali erkämpft. Dieser Erfolg war jedoch nur von kurzer Dauer. Wie würden Sie dies kommentieren, was muss jetzt passieren?

Unsere Freundin Leyla Güven hat einen großen Kampf und einen würdevollen Widerstand gegen die Isolation angeführt. Dieser Kampf konnte die Isolation in der Öffentlichkeit der Türkei zu einem Begriff machen und sowohl im Land als auch international auf die Tagesordnung bringen. Die Regierung reagierte auf diesen gesellschaftlichen Druck und auch im Zusammenhang mit dem damals gerade stattfindenden Wahlkampf, indem sie das Verbot von Anwaltsbesuchen zumindest teilweise einschränkte. Mit den Anwalts- und Familienbesuchen begann man erneut von Verhandlungen, Friedenschancen und einer möglichen Lösung zu reden. Herr Öcalan hatte bei seinem letzten Anwaltstreffen am 7. August 2019 erklärt: „Ich kann das Problem in zwei Wochen lösen.“ Aber die AKP-Regierung beantwortete dieses Angebot mit einer erneuten Einsetzung der Totalisolation. Auch die am 19. August beginnende erneute Einsetzung von Zwangsverwaltern an Stelle von HDP-Bürgermeister*innen war eine Antwort. Die Regierung zielte außerdem darauf ab, Syrien zu besetzten. Wenn wir uns diese ganzen Entwicklungen anschauen, dann wissen wir, welche Bedeutung es hat, einen noch stärkeren demokratischen Kampf gegen die Isolation zu führen und diesen Kampf mit dem Kampf um Demokratie zusammenzubringen. Die Vereinigung der Kämpfe spielt eine wichtige Rolle dabei, den Einfluss der AKP zurückzudrängen. Der Kampf der HDP um eine demokratische Allianz ist gleichzeitig der Kampf gegen die Isolation. Dieser Kampf ist ein Kampf, den alle Menschen, die Demokratie wollen, gemeinsam führen müssen. Jeder muss sich dessen bewusst sein.

Das Antifolterkomitee des Europarats und die anderen internationalen Einrichtungen schweigen zur Isolation. Was muss getan werden?

Die Isolation ist ebenso unmenschlich wie rechtwidrig. Leider hat die EU keine ihren demokratischen Werten und den Menschenrechtskonventionen entsprechende Haltung gegenüber der Isolation bezogen. Die Kurden werden dem Profitstreben geopfert. Das ist das übelste, was den Völkern angetan werden kann. Deswegen sind die EU, der Europarat, und das Antifolterkomitee in der Verantwortung, ihr eigenes Recht einzuhalten und endlich die nötigen Schritte zur Beendigung der Isolation einzuleiten. Es ist eine historische Verpflichtung. Die kurdische Frage ist auch eine Frage Europas. Die kurdische Frage ist eine internationale Frage. Niemand kann ihr ausweichen.

Wollen Sie noch etwas anmerken?

Wegen des 21-jährigen Widerstands konnte das internationale Komplott keinen Erfolg haben. Statt aus der Geschichte zu lernen, stützen sich die Regime weiterhin auf den Krieg. Wenn sie glauben, damit etwas erreichen zu können, haben sie sich geirrt. Wir haben einen Wunsch. Die Möglichkeiten der demokratischen Politik müssen breit genutzt werden. Es gibt keine Alternative zu demokratischen Verhandlungen. Die Türkei bricht heute politisch, ökonomisch und gesellschaftlich in sich zusammen. Das liegt am Beharren auf der Ausweglosigkeit. So lange das so weitergeht, wird es noch größere Krisen und Putsche in der Türkei geben. Damit muss Schluss sein. Die Völker in der Türkei sind nicht gezwungen, unter dem Faschismus zu leben. Die sind nicht alternativlos. Die demokratische Alternative, welche die HDP geschaffen hat, kann einen solchen Weg öffnen. Wir müssen alle gemeinsam aufbrechen und dem Faschismus und der Verarmung entgegentreten und Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zusammen aufbauen. Wir werden damit Erfolg haben.