Anlässlich des nahenden Todestages von Seyit Riza hat vor der türkischen Botschaft in Berlin eine Gedenkveranstaltung stattgefunden. „Pîr Sey Rızo“ (Kurmancî: Seyîd Riza), der Anführer der alevitisch-kurdischen Dersim-Rebellion, wurde am 15. November 1937 zusammen mit seinem Sohn Resik Hüseyin und fünf seiner Freunde in Xarpêt (türk. Elazığ) hingerichtet.
Aufgerufen zu dem Gedenken hatte FED-KURD, unter den Anwesenden war mit Mehtap Erol auch die Ko-Vorsitzende der kurdischen Föderation. Erol klärte in einer Ansprache über die Hintergründe auf, die damals dazu führten, dass sich in Dersim ein Widerstand formierte. Die Rebellion fand in der Kontinuität der zahlreichen kurdischen Aufstände statt, die dem Prozess der türkischen Nationalstaatsbildung nach dem Fall des Osmanischen Reiches folgten. „Die Niederschlagung dieses Widerstandes ist gleichzusetzen mit einem kurdischen Genozid“, sagte Erol.
In weiteren Redebeiträgen wurde betont, dass sich an der antikurdischen Mentalität der Türkei und dem Prinzip „Ein Staat, eine Flagge, eine Sprache, eine Nation“ nichts geändert habe. „Noch immer wird das Land von der Vorstellung einer einheitlichen türkischen Nation, neben der es keinen Platz gibt für andere Gruppen, geführt“, hieß es. Diesen Faschismus habe die kurdische Gesellschaft niemals akzeptiert, an dieser Haltung werde sich auch in Zukunft nichts ändern: „Wir vergessen nicht, wir beugen uns nicht, wir werden niemandem vergeben.“
Die Rebellion in Dersim
Dersim, eine Provinz in Nordkurdistan, liegt inmitten einer unzugänglichen Bergregion mit bis zu 3.500 Meter hohen Bergen und tiefen Schluchten. Aufgrund der Berge, Täler und Wälder bot die Region den verfolgten Aleviten des Osmanischen Reichs Zuflucht vor den sunnitischen Osmanen, die gegen alle ethnischen und religiösen Gruppen vorgingen, die nicht ins Bild des Reichs passten.
Angesichts der geografischen Gegebenheiten war es Dersim weitgehend möglich, einen de-facto autonomen Status und ein Mosaik aus ethnischen und religiösen Gruppen aufrechtzuerhalten. Dies änderte sich in den 1930er Jahren, als 1934 das sogenannte Besiedlungsgesetz (İskan Kanunu) in Kraft trat. Die Regierung unter Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk wollte einen homogenen türkischen Staat unter türkischer Prägung. Dersim war das erste Gebiet, in dem das Gesetz der Entvölkerung zur Geltung kommen sollte. In seiner Rede zu Parlamentseröffnung 1936 bemerkte Atatürk: „Um diese Wunde, diesen furchtbaren Eiter in unserem Innern, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen – egal was es koste.“
Daraufhin wurden alle Institutionen der tribalen und religiösen Führung abgeschafft und ihr Grundbesitz konfisziert. Dersim wurde in Tunceli (türkisch: Eiserne Hand) umbenannt und unter Militärverwaltung gestellt. Beabsichtigt war eine politisch-administrative Reorganisation mit Hilfe militärischer Repression. Hierfür wurde der militärische Ausnahmezustand über Dersim verhängt.
Physischer und kultureller Genozid
1937 formierte sich ein Aufstand gegen die Assimilations- und Türkisierungspolitik des kemalistischen türkischen Staats. Dieser Aufstand wurde von Seyîd Riza angeführt. Den bewaffneten Widerstand wiederum führte das Paar Alişêr und Zarife an. Dass Frauen in den kurdischen Widerständen eine tragende Rolle spielen, hat Tradition. Doch durch einen physischen und kulturellen Genozid wurde der Aufstand in Dersim blutig niedergeschlagen.
Die Forderung zur Abschaffung der „Tunceli”-Gesetze und Gewährung einer Verwaltungsreform und nationaler Rechte wurde mit dem Einmarsch der türkischen Armee beantwortet. Am 4. Mai 1937 beschloss die Regierung in Ankara ihre Operation „Züchtigung und Deportation“. Sodann marschierte das türkische Militär mit 30.000 bis 40.000 Soldaten in Dersim ein und tötete bis zu 14.000 Menschen. Männer, Frauen, Alte und Kinder wurden erschossen oder – um keine Munition zu verschwenden – mit Bajonetten erstochen. Kinder wurden teilweise entführt und deportiert oder mit ihren Müttern in Heuschuppen gelockt und dort bei lebendigem Leibe verbrannt. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt und mit Kampfflugzeugen bombardiert.
Sey Rızo wird in Hinterhalt gelockt
Im September 1937 bot die türkische Regierung einen Waffenstillstand samt Friedensvertrag und sogar Kompensationen an. Daraufhin begab sich der damals 75-jährige Aufstandsanführer Seyîd Riza für Friedensgespräche nach Ezirgan (Erzincan). Dort wurde er jedoch in einem Hinterhalt verhaftet, im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und am 15. November 1937 gemeinsam mit seinem Sohn Resik Hüseyin und fünf seiner Freunde in Xarpêt hingerichtet.
Weitere 70.000 Tote im Frühjahr 1938
Nach der Ermordung Seyîd Rizas ging der Widerstand aber weiter - im Frühjahr 1938 schlug das Militär erneut zu: da Dersim keinen Anführer mehr hatte, hatte das Militär leichtes Spiel, den Aufstand vollständig niederzuwerfen. Die rund 100.000 Soldaten gingen nun noch brutaler vor, etwa 70.000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, wurden auf grausame Weise getötet. Zivilisten, die in Berghöhlen Zuflucht suchten, wurden eingemauert, ausgeräuchert oder verbrannt. Viele Opfer, vor allem Frauen, stürzten sich aus Verzweiflung von den Bergklippen in den Munzur, um nicht gefangen genommen zu werden. Über 100.000 Menschen wurden zur Deportation gezwungen.
Dersim: Nicht nur Genozid, sondern auch Femizid
Dersim stellt aus Sicht der Systematik von Genozid durch Feminizid ein besonders abscheuliches Beispiel dar. Denn hier wurden Frauen nicht „nur“ ermordet, sondern durch sie sollte der physische Genozid durch den weißen Genozid vollendet werden [Anmerkung: Der Begriff „weißer Genozid” wird häufig im Zusammenhang nicht-physischer Formen von Ethnozid und Völkermord wie Vertreibung, Assimilation, Vernichtung des kulturellen Erbes und der Geschichte usw. im Kontext mit Gräueltaten an den Armeniern, Kurden, Aramäern, Assyrern und Eziden verwendet. Dies hat nichts mit der Verwendung des Begriffs durch rechtsradikale Verschwörungstheorien in westlichen Ländern zu tun, die Rassismus gegen weiße Menschen beinhalten.]. Dersim sollte vollständig zu Tunceli werden. Hierfür war eine Türkisierung und Sunnitisierung der Frauen und Mädchen notwendig. Denn kollektive Identität, Sprache, Kultur und Geist werden in ländlichen Gesellschaften überwiegend von Frauen transferiert. Die Mädchen und Frauen aus Dersim sollten nicht nur ihrer Familie, ihrer Häuser, ihrer Heimat beraubt werden, sondern von allem, was sie ausmacht: Ihrer kulturellen, sozialen, religiösen, ethnischen und sprachlichen Identität. Durch sie sollten die authentische Identität von Dersim ausgeschaltet und das Kollektivgedächtnis zerstört werden. Dies geschah zum größten Teil über Verschleppung der Mädchen und jungen Frauen. Die Anerkennung und Aufarbeitung des Genozids von Dersim auf staatlicher Ebene und in der Gesellschaft ist bis heute jedoch noch nicht vollzogen worden.