In Berlin hat am Wochenende eine Gedenkveranstaltung für vier kurdische Demonstrant*innen stattgefunden, die am 17. Februar 1999 von Sicherheitsbeamten des israelischen Generalkonsulats erschossen wurden. Der Vierfachmord ereignete sich zwei Tage nach der völkerrechtswidrigen Verschleppung Abdullah Öcalans. Am 15. Februar vor 21 Jahren wurde der PKK-Gründer aus der griechischen Botschaft in Kenias Hauptstadt Nairobi auf die Gefängnisinsel Imrali, dem türkischen Äquivalent zu Robben Island, entführt - unter maßgeblicher Beteiligung von CIA, MIT und Mossad, mit der Unterstützung Russlands, Griechenlands und anderer europäischer Staaten, darunter auch Deutschland. Als die kurdische Öffentlichkeit davon erfuhr, zogen Tausende Kurdinnen und Kurden in allen Kontinenten zu den Vertretungen der am „internationalen Komplott“ gegen Öcalan verantwortlichen Staaten, um dort zu protestierten oder sie zu besetzten.
Todesschützen wurden nach Israel ausgeflogen
Bei dem Protest vor der israelischen Botschaft im Berliner Stadtteil Schmargendorf eröffneten zwei Sicherheitsbedienstete das Feuer aus der geöffneten Tür des Konsulats auf die Demonstrant*innen im Vorgarten und auf der Eingangstreppe. Bis zu 30 Schüsse wurden abgeschossen. Sema Alp, Mustafa Kurt, Ahmet Acar und Sinan Karakuş wurden getötet, andere durch die Kugeln der israelischen Sicherheitsbeamten zum Teil schwer verletzt. Die Überlebenden wurden später vor ein deutsches Gericht gestellt: Jugendliche wurden zu Sozialstunden verurteilt, Erwachsene erhielten neben Freisprüchen Bewährungsstrafen von bis zu zwei Jahren wegen Landfriedensbruchs und sollten sogar abgeschoben werden. Erst mit einem Urteil des Verwaltungsgerichts konnten die Ausweisungen gestoppt werden. Die Todesschützen hingegen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen flog man sie schnell nach Israel aus, weil sie diplomatische Immunität genossen.
„Sie waren ja nur zwei Leute, um sich zu verteidigen“
Noch am Abend des Vorfalls rechtfertigte der Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor, die Vorgehensweise der Sicherheitsbeamten: „Sie waren ja nur zwei Leute, um sich zu verteidigen. Und die Leute, die angegriffen haben, waren etwa 200. Da mussten sie schießen. Sie hatten keine andere Möglichkeit, um zu überleben.“ Notwehr sei es gewesen, und nur ein einziger Warnschuss in die Luft sei außerhalb des Gebäudes abgegeben worden.
Auch das deutsche Außenministerium rechtfertigte zwei Tage danach das Verhalten gegen die kurdischen Demonstrant*innen: „Es liegen keine Anhaltspunkte für ein schuldhaftes Verhalten der israelischen Sicherheitsbeamten vor.“ Die Polizei behauptete, dass die Demonstrant*innen mit Äxten und Eisenstangen bewaffnet gewesen seien.
Am 27. Mai 1999 präsentierte das Magazin Kontraste des deutschen Fernsehsenders ARD ein Polizeivideo, in dem sich die Ereignisse völlig anders darstellen. Dort stehen auf der Treppe vor dem Konsulatseingang höchstens 20 Kurd*innen, meist mit dem Rücken zur verschlossenen Tür. Keine Spur von Äxten oder anderen Waffen. Lediglich einen Ast von einem Baum kann man in der Hand eines Demonstranten ausmachen.
Plötzlich ertönen in kurzer Folge mindestens elf Schüsse. Der oder die Schützen sind nicht sichtbar, wohl aber deren Wirkung. Einige Demonstrant*innen gehen getroffen zu Boden und bleiben auf der Treppe liegen. Der Rest flüchtet in Panik zum Ausgangstor. Zu allem Überfluß wirft die Polizei, die sich außerhalb des Konsulatsgeländes aufgehalten hatte, den flüchtenden Menschen auch noch Tränengaspatronen entgegen.
Berliner Untersuchungsausschuss: Notwehr-Behauptung nicht haltbar
Eine Arbeitsgruppe von 15 Berliner Rechtsanwält*innen forderte Strafverfahren gegen die israelischen Wachleute, weil diese aufgrund ihres „extrem unverhältnismäßigen Handelns zur Verantwortung gezogen werden“ müssten. Die Verteidiger*innen der Kurd*innen hegten Zweifel an den offiziellen Berichten über die Ereignisse und beklagten immer wieder eine Verschleppung der Ermittlungen. Israel bot zwar eine Vernehmung der Sicherheitsmänner an, doch nur unter der Bedingung, dass ihre Anonymität gewahrt bliebe. Darauf ließen sich die deutschen Gerichte nicht ein. Die Anwält*innen mahnten, die israelische Seite hätte internationale Gepflogenheiten bei Rechtshilfeersuchen missachtet und die deutschen Ermittler hätten diplomatisch heikle Verhöre vermeiden wollen. Monate später stellte ein Berliner Untersuchungsausschuss schließlich fest, dass die Version der Israelis, die Beamten hätten in Notwehr gehandelt, nicht haltbar sei.
Noch deutlicher ging das kaltblütige Verhalten der Sicherheitsbeamten aus den Aussagen eines Hauptkommissars der Berliner Bereitschaftspolizei hervor, der angab: „Beide schossen für mich völlig gezielt auf die vor ihnen befindlichen Personen.“
Polizei grenzt Teilnehmerzahl des Gedenkens ein
An dem stillen Protest vor der israelischen Vertretung konnten nicht alle gekommenen Menschen teilnehmen, weil die Berliner Polizei die Teilnehmerzahl begrenzt hatte. Aufgerufen zu dem Gedenken hatte der Frauenrat DEST-DAN gemeinsam mit dem Zentrum der freien Gemeinschaften Kurdistans NCKA. Nachdem ein schwarzer Kranz vor der Botschaft niedergelegt wurde, hielten die Trauernden schweigend Bilder der Opfer in ihren Händen. Nach einer Weile richtete der kurdische Politiker Muharrem Aral einige Worte an die Anwesenden. Aral sagte, die Botschafts-Besetzer seien auf „barbarische Weise“ getötet worden, als sie ihren Unmut über die Verschleppung Öcalans zum Ausdruck brachten. „Es ist unser aller Pflicht, ihnen ein ehrendes Andenken zu bewahren.“
Sema Alp
Sema Alp war 18 Jahre jung und stammte aus Baglica in der Nähe von Êlih (Batman) in Nordkurdistan. Dort lebte ihre Familie seit Generationen - bis der Ort Anfang der 90er Jahre vom türkischen Militär dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sema hat die Zerstörung ihres Dorfes miterlebt. Semas Mutter zog mit ihren jüngeren Kindern in die Stadt Misirc (Kurtalan) - damals ein Ort im militärischen Belagerungszustand. Der Vater lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 20 Jahren in Berlin, wo er in einer Spinnerei arbeitete. Das Geld, das er nach Misirc schickte, wurde dringend benötigt, um das Auskommen der Familie zu sichern. Sema selbst kannte ihren Vater nur von den kurzen Urlaubsbesuchen, die er bei seiner Familie verbrachte. Mitte der 90er Jahre holte der Vater seine Familie nach Berlin.
Sema kannte, bevor sie nach Berlin kam, nur das Leben in einem kurdischen Dorf, mit seinen traditionellen Formen.
Als sie im Alter von 14 Jahren nach Berlin kam, fiel sie auch hier aus dem klassischen Bildungsweg heraus. Lesen und Schreiben lernte sie erst an der Volkshochschule. Sie war ein eher zurückhaltendes Mädchen, das lieber bei ihrer Mutter blieb, als aus dem Haus zu gehen. Sie war mit ihrer 15-jährigen Schwester Emine zum kurdischen Zentrum gegangen. Von dort aus fuhren Autos zum israelischen Generalkonsulat. Vor dem Konsulat wurde Sema, als sie weglief aus größerer Entfernung in den Hinterkopf sowie in den Rücken geschossen. Emine, die jüngere Schwester von Sema sah, wie ihre Schwester abtransportiert wurde. Emine verlor wegen der Teilnahme an der Demonstration ihre unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und ihren Ausbildungsplatz als Krankenschwester. Sie musste vor Gericht erscheinen, während die israelischen Wachleute unbehelligt blieben.
Sema wurde in der Erde ihres zerstörten Dorfes Baglica begraben.
Ahmet Acar
War 24 Jahre jung und kam aus Riha (Urfa). Er war 1993 nach Berlin gekommen, wohnte zuletzt mit seiner Frau in Steglitz. Er erlag erst im Krankenhaus seinen Verletzungen im Becken und am Arm.
Mustafa Karakurt
Der einzige, der im Gebäude der israelischen Botschaft getötet wurde, war Mustafa Kurt. Auch ihn trafen die tödlichen Geschosse von hinten in die Hüfte. Der 29-Jährige stammte ebenfalls aus Riha, war erst einen Monat vor seinem Tod aus dem Saarland nach Berlin gezogen.
Sinan Karakuş
War 26 Jahre jung und kam aus Sêwreg (Siverek). Er lebte seit Ende 1997 bei Verwandten in Berlin. Er hatte keinen Aufenthaltsstatus für Deutschland. Er starb auf der Türschwelle des Konsulats, getroffen in den Hinterkopf und den Unterschenkel.
Auch bei vielen Verletzten zeigte sich, dass sie auf der Flucht waren, als sie - von hinten - getroffen wurden.