Auch die Linke muss ihre Staatsfixierung überwinden
Eda Ibrahimoğlu, Ko-Sprecherin des Jugendrates der HEDEP, betonte, dass die Opposition ohne eine klare Systemkritik und eine Abgrenzung vom Staat keine nachhaltige Lösung schaffen könne.
Eda Ibrahimoğlu, Ko-Sprecherin des Jugendrates der HEDEP, betonte, dass die Opposition ohne eine klare Systemkritik und eine Abgrenzung vom Staat keine nachhaltige Lösung schaffen könne.
Im vergangenen Monat haben sich mindestens fünf Universitätsstudent:innen aufgrund der katastrophalen Lage in der Türkei das Leben genommen. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 waren Zehntausende junger Menschen gezwungen, das Land auf unterschiedlichsten Wegen aufgrund von Verfolgung, Angst um die Zukunft und Armut zu verlassen. Im ANF-Gespräch äußerte sich Eda Ibrahimoğlu, Ko-Sprecherin des Jugendrates der HEDEP, zur Situation der Jugend und ihrem Widerstand.
Sie kritisiert, dass auch die linke Geschichtsschreibung ihren Anteil am Monismus des türkischen Staates hat. Die revolutionäre Jugend müsse diese Haltung zuallererst überwinden: „Es muss einen entschiedeneren Kampf gegen den Chauvinismus geben. Wenn der koloniale Status des kurdischen Volkes nicht aufgehoben wird, wird es keine Freiheit für die Völker der Türkei oder Demokratie geben, das ist klar. Diese Verbindung zwischen Unterdrückung und Freiheit muss deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Die Verantwortung dafür liegt bei den revolutionären Jugendbewegungen.“
„Der Staat will alles homogenisieren“
Eda Ibrahimoğlu warnte vor den gewaltsamen Homogenisierungsbestrebungen des Staates, die sich vor allem gegen die Jugend richten: „Dafür wurden alle Institutionen des Staates mobilisiert, insbesondere der Bildungsbereich. Das Wesen der Jugend wird direkt angegriffen. Die Bemühungen der AKP, die Jugend in den Dienst des Systems zu stellen, sind heute Teil der Spezialkriegspolitik. Seit Bestehen der Republik wird die intensivste Form der Spezialkriegsführung gegen die kurdische Jugend im Besonderen und das kurdische Volk im Allgemeinen geführt. Die kurdischen Stadtviertel stehen an der Spitze der Orte, an denen Drogen konsumiert werden. Mit der Politik der Verarmung Kurdistans wird die kurdische Jugend gezwungen, sich als billige Arbeitskraft in den Metropolen zu verkaufen. Übergriffe und Vergewaltigungen junger Frauen werden durch eine Politik der Straflosigkeit gefördert, Gesetze zum Schutz von Frauen werden gezielt demontiert oder einfach nicht angewandt. Es wird versucht, den Willen der kurdischen Jugend zu usurpieren und ihre Identität zu vernichten.“
„Die türkische Republik erkennt das Lebensrecht der Jugend nicht an“
Eda Ibrahimoğlu wies darauf hin, dass auch junge Menschen aus der Türkei von diesen Angriffen auf kurdische Jugendliche betroffen sind: „Die Zwangshomogenisierung im Bildungswesen hindert junge Menschen aus der Türkei daran, sich selbst zu verwirklichen. Da die Prüfungsformate und Lehrpläne jedes Jahr aktualisiert werden, springen die Studierenden quasi über die Klinge. Die meisten Universitäten sind starre Institutionen, die von der Regierung monopolisiert werden, anstatt wissenschaftlich zu arbeiten. Daher leiden Millionen von Studierenden, die diese Universitäten absolvieren, unter Arbeitslosigkeit und Armut. In keiner anderen historischen Periode war die Jugendarbeitslosigkeit und -armut so hoch. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Republik das Lebensrecht der Jugend nicht anerkennt, außer sie kann sie homogenisieren und sie für ihre Zwecke nutzen."
„Die Jugendbewegungen sind die Hoffnung“
Die Jugendratsvertreterin beschrieb die Jugendbewegungen als entscheidende Kräfte der Demokratisierung und führte aus: „Die Hauptkraft, die diese Prozesse ausgelöst hat, war zweifellos immer die Jugend. Wenn es heute noch einen revolutionären Kampf gegen Unterdrückung gibt, dann ist das ein Verdienst der 68er-Generation, die den revolutionären Kampf initiiert hat. Ihr revolutionäres Erbe gibt uns auch heute noch Hoffnung. Auch wenn manche behaupten, dass die revolutionären Bewegungen nach dem Putsch vom 12. September 1980 zurückgegangen seien, so straft der revolutionäre Kampf heute in Kurdistan, in der Türkei und sogar im gesamten Nahen Osten diese Lügen. Revolution bedeutet, eine Gesellschaft mit ihren humanistischen, moralischen und ethischen Werten um eine Ideologie zu vereinen. Die heutige Gesellschaft wird nicht unter der Hegemonie des Kapitalismus zerquetscht, sondern sieht die Krise des kapitalistischen Systems. Dies macht eine Revolution in nicht allzu großer Ferne möglich. Diese Revolution kann heute, so wie im Jahr 68, durch einen organisierten Kampf erreicht werden.“
„Es handelt sich um ein Problem des Systems“
Daher sei es wichtig, sich nicht nur mit Symptomen auseinanderzusetzen, sondern sich auf das System selbst zu fokussieren, sagte Eda Ibrahimoğlu und fuhr fort: „Die Probleme werden nicht durch einen Machtwechsel aus der Welt geschafft, und es kann keine nachhaltige Lösung ohne Systemkritik geben. Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür. Bereits in der Entstehungsgeschichte und Struktur des Nationalstaates ist der Monismus in Form von einer Nation, einem Staat, einer Religion, einem herrschenden Geschlecht angelegt. Auch die linke Geschichtsschreibung hat ihren Anteil an diesem Monismus. Die revolutionäre Jugend muss dies zunächst in ihrer eigenen Geschichtsschreibung überwinden. Sie muss deutlicher zum Ausdruck bringen, was mit Griech:innen, Armenier:innen, Las:innen, Turkmen:innen, Kurd:innen im Rahmen der Durchsetzung des Staates geschehen ist. Sie muss sich deutlicher von der vom Kemalismus geschaffenen Ideologie abgrenzen. Sie muss dem Chauvinismus deutlicher den Kampf ansagen. Es ist offensichtlich, dass Freiheit und Demokratie für die Völker der Türkei nicht kommen werden, ohne den kolonialen Status des kurdischen Volkes zu beseitigen. Diese Unterdrückung der Völker der Türkei, der Zusammenhang mit der Freiheit, muss deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Die Verantwortung liegt hier bei den revolutionären Jugendbewegungen.“
„Nicht nur ein Problem der Kurd:innen“
Ibrahimoğlu kritisierte, dass es in der Beziehung zwischen der revolutionären Jugendbewegung der Türkei und der kurdischen patriotischen Jugendbewegung weiterhin eine Kluft gebe, obwohl diese Bewegungen doch historisch eng miteinander verbunden seien. Sie schloss mit den Worten: „Von Kurdistan bis Lateinamerika, vom Nahen Osten bis Amerika, von der Türkei bis zum Kaukasus kämpfen die revolutionären Bewegungen der Welt gegen die kapitalistische Moderne und ihre Auswüchse. Unser Kampf ist ebenfalls Teil der demokratischen Moderne entgegen der kapitalistischen Moderne. Dies ist die Perspektive und das Paradigma unseres Kampfes. Heute leiden die Völker in der Türkei unter der Vorherrschaft der kapitalistischen Moderne. Das kurdische Volk ist seit Jahrhunderten zersplittert, geteilt, und zwischen seinen Dörfern wurden künstliche Grenzen gezogen. Das bedeutet, dass die kapitalistische Moderne nicht nur das Problem der kurdischen Nation ist. Das Fortbestehen des Konflikts und des Widerspruchs sichert die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Hegemonie in der Region. In einer solchen Zeit sollten die revolutionären Bewegungen in der Türkei und die patriotische revolutionäre Jugend unbedingt, allein schon aufgrund ihrer geographischen Lage, ihren Kampf vereinigen. Heute wird die Kluft zwischen den beiden Strömungen, die sich historisch immer gegenseitig gestützt haben, sehr deutlich. Das steht in engem Zusammenhang mit der Zunahme von Krieg, Militarismus und Chauvinismus in der Region. Diese Situation veranlasst die Revolutionär:innen aus der Türkei, sich von den kurdischen Revolutionär:innen zu distanzieren. Denn eine Verbindung mit ihnen wird so verstanden, als ob man sich eine Zielscheibe für den Staat aufmale. Das ist Folge der Spezialkriegspolitik, mit der versucht wird, die revolutionären Bewegungen zu spalten. Sie kann nur durch die Fortsetzung des Kampfes und den Aufbau von festeren Verbindungen überwunden werden. Beide revolutionären Bewegungen sind dafür verantwortlich, dieses Band zu stärken. Mit aufrichtiger Kritik und Selbstkritik ist es möglich, in Zukunft eine stärkere Front zu bilden.“