Dem türkischen Justizministerium sind Anträge zur Aufhebung der Immunität von neun Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) vorgelegt worden. Das Manöver richtet sich gegen die Ko-Vorsitzende Pervin Buldan sowie gegen Fatma Kurtulan, Garo Paylan, Hüda Kaya, Meral Danış Beştaş, Saruhan Oluç, Serpil Kemalbay, Sezai Temelli und Pero Dündar. Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara begründet den Schritt damit, dass neue Erkenntnisse gegen die betroffenen Abgeordneten vorliegen würden, die bewiesen, dass sie bei den Kobanê-Protesten im Oktober 2014 zu Gewalt aufgerufen hätten. Bei positiver Prüfung wird das Ministerium die Anträge ans Parlamentspräsidium weiterreichen. Dieses ist für die Einbringung in der Nationalversammlung zuständig.
Im Zusammenhang mit den Protesten gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall und der anschließenden Belagerung der westkurdischen Stadt Kobanê in Nordsyrien sind insgesamt 108 Personen angeklagt, ein Großteil setzt sich aus Politikerinnen und Politikern der HDP und Akteur*innen der kurdischen Zivilgesellschaft zusammen. In allen Fällen fordert die Generalstaatsanwaltschaft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes“ lebenslange Haft, außerdem werden ihnen 37-facher Mord und dutzende Mordversuche vorgeworfen. Neben mehr als 2.500 Einzelpersonen treten auch etliche Ministerien, Behörden und Parteien als Nebenkläger auf, darunter die Ministerien für Inneres, Justiz und Verteidigung, das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie, die Zentralbehörde der türkischen Polizei, der türkische Geheimdienst (MIT), die Koalitionsparteien AKP und MHP, die CHP und die Hizbullah-nahe Partei Hüda Par. Angeklagt sind auch mehrere Mitglieder des Exekutivkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Südkurdistan, darunter Murat Karayılan, Duran Kalkan und Cemil Bayık.
Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem Berichte über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen, die bei ANF veröffentlicht worden sind. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.
Hintergrund der Kobanê-Proteste
Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen. Angesichts der kritischen Situation hatte die HDP die Öffentlichkeit zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstranten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen.
Prozesstermin im April
Der Prozesstermin im Kobanê-Verfahren ist für den 25. April angesetzt worden, einem Sonntag. Verhandelt wird im Gerichtsgebäude auf dem Gefängniscampus Sincan.