Am vergangenen Montag wurde der gerade mal 15-jährige Schüler Kadir H. in der Hamburger Neustadt von acht Polizist*innen umringt, mit Pfefferspray eingedeckt und – nachdem er sich wehrte – schließlich niedergeschlagen. Der Grund: Er fuhr mit einem Elektroroller auf dem Gehweg. Eine Polizistin hielt dem Jungen, der unter Asthma leidet, den Mund zu, obwohl er rief: „Ich bekomme keine Luft“. Das alles spielte sich zufällig vor einer Wand ab, auf der George Floyds letzte Worte gesprayt waren: „Please, I can’t breathe“. Kadir hatte keinen Ausweis dabei, aber den Beamt*innen angeboten, an seiner Schule seine Personalien überprüfen zu lassen, oder bei seinem Vater anzurufen. Ohnehin kannte der lokale Bürgerbeamte die Jugendgruppe um Kadir namentlich, so dass die Personalienüberprüfung offenbar reine Schikane war. Eine Passantin hatte die Szene gefilmt. Heute fand in der Neustadt nicht weit vom Ort des Geschehens eine Kundgebung gegen Polizeigewalt statt, zu der etwa 200 Personen gekommen waren.
Die Linke: „Schäbige Medienkampagne“ gegen Kadir
„Eigentlich wollte die Familie von Kadir hier sprechen“, erklärte Emre, einer der Organisatoren von der türkeistämmigen Föderation Demokratischer Arbeitervereine e.V. (DIDF). „Das haben sie aber zurückgezogen. Wir nehmen an, sie wurden eingeschüchtert“, fuhr der Aktivist fort und forderte, dass die Gewalt gegen Kadir von unabhängiger Seite untersucht und die beteiligten Beamten entlassen werden müssen. Im Anschluss sprach Deniz Çelik von der Linken. Er verurteilte die „schäbige Medienkampagne“ gegen Kadir und nannte die Zahl von 149 getöteten People of Colour durch Polizei oder andere staatliche Akteure seit 1990. Auch forderte er eine unabhängige Beschwerdestelle gegen Polizeigewalt.
Seebrücke: Der Polizei die Sicherheit der Willkür nehmen
Auf der Kundgebung wurde berichtet, dass es in Kadirs Schulklasse seit Dienstag kein anderes Thema mehr gebe. „Schüler und Eltern stehen geschlossen hinter Kadir“, hieß es. Ein Vertreter der Seebrücke erklärte: „Die Polizei glaubt, sie könne überall machen, was sie will, diese Sicherheit müssen wir ihr nehmen.“ Das Zusammenwirken von individuellem und strukturellem Rassismus bei der Polizei verstärke sich gegenseitig.
Kaya vom Jugendverein Hamburg äußerte, die Polizei sei mitleidlos und brutal gegen Kadir vorgegangen, insbesondere nachdem er rief, er könne nicht atmen. Gegen Polizeigewalt anzugehen, sei unmöglich. Selbst wenn man nach Schlägen auf eine Polizeiuniform blute, bekäme man eine Anzeige wegen Sachbeschädigung. So bleibe es auch unaufgeklärt, wer Informationen von einem Polizeicomputer in Frankfurt an Nazis weitergebeben hätte.
Migrantifa: Staatlichen Akteuren mangelt es an Respekt
Eine Vertreterin der Migrantifa erklärte: „Wir wären heute eigentlich in Hanau. Die Zeit und die Kraft, die Betroffene in die Vorbereitung der Demonstration dort gesteckt haben, sind nicht gewürdigt worden, den staatlichen Akteuren mangelt es an Respekt“. Von dieser Seite gebe es ein kontinuierliches Versagen. „Darüber wundern wir uns nicht mehr, wir haben kein Vertrauen mehr, es gibt keine ernsthafte Aufarbeitung. Eine Ausstrahlung der Gedenkveranstaltung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wäre das Mindeste gewesen, wo schon der Anschlag nicht verhindert wurde“, erklärte sie.
Wand mit „Please, I can’t breathe“ von Polizei überstrichen?
Mit dem Motto „Erinnern heißt verändern!“ und dem Aufruf, gemeinsam zu der Wand zu gehen, vor der Kadir die Gewalt erlebt hat, endete die Kundgebung. Ein Demonstrationszug ging dann zu den Köhlhöfen. Die Wand, auf der zuvor gestanden hatte „Please, I can’t breathe“ war in der vergangenen Nacht grau überstrichen worden. Viele Demonstrationsteilnehmer*innen zeigten sich überzeugt, dass dies die Polizei gewesen sein muss, denn für solche „Polizeiarbeit“ gibt es in Hamburg zahlreiche Beispiele. Ein Plakat mit der Aufschrift „Gegen rassistische Polizeigewalt, hier wurde unser Freund Kadir von acht Polizist*innen brutal angegriffen“ wurde angebracht. Natürlich verlangte die Polizei sofort, dass es wieder abgenommen werden müsse.
Liveübertragung von Kundgebung in Hanau
Im Anschluss fand eine Liveübertragung der Kundgebung der Angehörigen von Hanau im Park Fiction im Stadtteil St. Pauli statt. Auch hier intervenierte die Polizei und störte die Übertragung. „Das ist eine Respektlosigkeit ohne Gleichen, nach dem, was in den letzten Tagen in Hamburg passiert ist“, empörte sich eine Anwohnerin.
Gedenken an Nazi- und Polizeimorde
In Billwerder/Moorfleet, Halskestr. 72 wurde um 16 Uhr eine Gedenkkundgebung für Nguyễn Ngọc Châu (22) und Đỗ Anh Lân (18) abgehalten. Die beiden Boatpeople aus Vietnam waren in der Nacht vom 21. auf den 22. August 1980 brutal ermordet worden, als Neonazis einen Brandanschlag auf eine Hamburger Flüchtlingsunterkunft verübten. In Stade wurde um 17 Uhr auf dem Pferdemarkt für die Aufklärung des Todes von Aman Alizada, der am 17. August 2019 in seiner Wohnung von einem Polizisten durch fünf Schüsse getötet wurde, demonstriert.