Antikapitalistischer 1. Mai: Organisiert die Unorganisierten!

Angesichts von Kriegen, Klimawandel und vielen weiteren Krisen standen bei den Mai-Demonstrationen nicht nur traditionelle Themen im Vordergrund. Aktivist:innen aus der kurdischen Freiheitsbewegung beteiligten sich und setzten Zeichen der Solidarität.

Viele Menschen haben sich am Kampftag der Arbeiterklasse in verschiedenen Städten Deutschlands zu den Demonstrationen zum 1. Mai versammelt. Angesichts von Kriegen, Klimawandel und vielen weiteren Krisen standen allerdings nicht nur die traditionellen Themen wie bessere Lebensbedingungen, Tariflöhne oder der Schutz vor Armut im Alter im Vordergrund. Die kurdische Community war vielerorts präsent und beteiligte sich neben den Veranstaltungen, die von Gewerkschaften organisiert wurden, auch an Protesten linker Strukturen. Wir berichten über eine kleine Auswahl.

Nürnberg: Antikapitalismus und Vergesellschaftung

Zum Arbeiterkampftag rufen in Nürnberg traditionell zwei Akteure auf: Die acht unter dem Dach des DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften und das gesamte linksradikal bis alternative Spektrum mit verschiedenen, auch internationalistischen Gruppen.

Das Motto des DGB lautet dieses Jahr „Ungebrochen Solidarisch“. Die Gewerkschaften meinen damit: „Zusammenhalten und gemeinsam Ziele erreichen – das bedeutet Solidarität angesichts der vielfältigen Krisen – Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiepreisschocks und Inflation…“. Hauptrednerin war Christiane Brenner (2. Vorsitzende der IG Metall), die mit diesen Formulierungen sicher sein konnte, auf breiten Konsens zu stoßen und niemanden weh zu tun.

Während der DGB sein Familienfest feierte, sammelte sich die radikale Linke im Arbeiterviertel Gostenhof. Seit mittlerweile 30 Jahren zieht der von der OA (Organisierte Autonomie) angemeldete Aufzug und das anschließende Internationalistische Straßenfest die linksalternative Szene aus der gesamten Region an – statt Familienfest eher ein Klassentreffen…

Der Demo-Block der OA (Organisierte Autonomie) zeigte sich wie immer kämpferisch in Inhalt und Diktion: „Der von Krise zu Krise taumelnde Kapitalismus birgt [...] die Keimform des Neuen in sich! Ein würdevolles Leben für alle ist angesichts der Reichtümer der Welt, der technologischen Entwicklung und dem Potential für eine ökologische und soziale Planwirtschaft möglich“, heißt es im Aufruf, der unter dem Motto „Das Neue erkämpfen! Schluss mit Krise, Krieg und Kapitalismus“ steht. Die Rede ist von „Gegenmacht für ein besseres Morgen […] mit dem Ziel der sozialen Revolution und der klassenlosen Gesellschaft.“ In ihrem in Nürnberg und Stuttgart verlesenen Grußwort erklärt sich die OA auch solidarisch mit internationalistischen Kämpfen und erwähnt dabei: „die Aufstände im Iran für die Rechte von Frauen und gegen das religiös fundamentalistische Regime, die Verteidigung Rojavas gegen den faschistoiden türkischen Staat oder den Kampf der kommunistischen Guerilla auf den Philippinen und in Indien gegen imperialistische Ausbeutung.“

Die iL (Interventionistische Linke) lud ein zur Teilnahme am „Vergesellschaftungsblock“, an dem sich unter anderem auch die letzten Herbst gegründete Plattform „Genug! Für Alle!“ beteiligte. Die Kritik am „kapitalistischen Wahnsinn“ stand auch hier im Mittelpunkt: „Während Unternehmen in Zeiten multipler Krisen stetig höhere Gewinne erzielen, steigt täglich die Zahl derer, die von Hunger und Armut betroffen sind. Auch in den Zentren der kapitalistischen Moderne wird der nur scheinbare Widerspruch zwischen ständig wachsendem Reichtum einiger weniger und der zunehmenden Verarmung vieler immer deutlicher.“ Als greifbare Utopie wurde die Vergesellschaftung von bisher privatwirtschaftlich organisierten Bereichen wie zum Beispiel Wohnen, Verkehr, Energie und Pflege formuliert. Dabei bezog man sich auf den Erfolg des Berliner Volksentscheids für die Vergesellschaftung einer Wohnungsgesellschaft. „Lasst uns über Vergesellschaftung sprechen! Lasst uns darüber diskutieren, wie wir leben wollen, für wen wir wie produzieren wollen: für die Profite von Konzernen oder für die Belange von uns als Gesellschaft. Wir müssen als Gesellschaft endlich Kontrolle erlangen über die Frage, was produziert und wie es verteilt wird.“

Die am 1. Mai klassisch anti-kapitalistischen Forderungen werden heute meist verbunden mit ökologischen, anti-militaristischen und feministischen Themen. Dass mittlerweile eine Hierarchisierung der Anliegen abgelehnt wird und die Zusammenhänge zwischen Kapitalinteressen, ökologischer Verwüstung, Patriarchat, Repression und der Rolle der Nationalstaaten benannt werden, bedeutet einen Fortschritt in linken Bewegungen im Vergleich zu früheren Jahren. Manchmal scheint es, als gerieten dabei identitätspolitische Aspekte zu sehr in den Vordergrund; doch vielleicht ist dies ein notwendiger Einstieg in einen Prozess der Politisierung der oft jungen Demonstrant:innen? Zu hoffen wäre, dass das Erleben kollektiven Widerstands auch das „Krebsgeschwür des Individualismus“ überwindet.


Die kurdische Community beteiligte sich trotz intensiven Wahlkampfs für die Grüne Linkspartei (Yeşil Sol Parti, YSP) an den Mai-Veranstaltungen mit eigenen Symbolen und Essensständen. Thema waren unter anderem auch die jüngsten Repressionswellen in der Türkei, das Auftauchen von Erdogan-Wahlplakaten in Nürnberg und die ständige Kriminalisierung kurdischer Aktivist:innen seitens der deutschen Justiz.

Stuttgart: Sanitätsgruppe kritisiert massive Polizeigewalt

In Stuttgart haben mehrere Veranstaltungen zum 1. Mai stattgefunden. Der Tag begann mit einer Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), an dem sich auch ein kurdischer und ein antikapitalistischer Block beteiligte. Im Anschluss daran folgte eine „Revolutionäre 1. Mai-Demonstration“. In Reden wurde zu einer Vereinigung der Ausgebeuteten und Unterdrückten aufgerufen, einer globalen Gewerkschaftsbewegung für Zusammenhalt, gegen Rassismus und imperialistische Ausbeutung von Werktätigen. Es brauche ein Programm, um eine Brücke zwischen dem unmittelbaren Kampf der Arbeitenden und dem Kampf zur Zerstörung des kapitalistischen Systems zugunsten einer neuen Gesellschaft zu schlagen, die die Befreiung der am stärksten Unterdrückten und Ausgebeuteten garantiere. Dies müsse auf der Grundlage der alten Gewerkschaftsparole „Organisiert die Unorganisierten!“ geschehen.


Doch die Protestzüge durch die Stuttgarter Innenstadt wurden von Polizeigewalt überschattet. Die Sanitätsgruppe Süd-West e.V., die auf beiden Veranstaltungen den antikapitalistischen Block sanitätsdienstlich absicherte, meldete mindestens 94 Verletzte hauptsächlich durch Polizeigewalt, sowie massiven Pfeffersprayeinsatz. Bereits zu Beginn der DGB-Demonstration am Marienplatz war ein massives Polizeiaufgebot vor Ort. „Im Verlauf wurde der antikapitalistische Block plötzlich ohne erkennbaren Grund vorübergehend durch die Polizei am Weiterlaufen gehindert und kurz darauf mit Pfefferspray angegriffen, sodass wir eine zweistellige Zahl an Patient:innen behandeln mussten“, erklärte die Sanitätsgruppe. In einem Fall musste die betroffene Person chirurgisch behandelt werden.

Die revolutionäre 1. Mai-Demonstration sollte im Anschluss vom Schlossplatz aus nach Heslach laufen. Noch während der Auftaktkundgebung stellte sich die Polizei jedoch auf der geplanten Demonstrationsroute auf, um den Marsch mit wechselnden Begründungen am Loslaufen zu hindern. „Beispielsweise kritisierte die Polizei die Transparentlängen von teilweise über 1,5 Metern, sowie das Tragen eines medizinischen Mundschutzes durch Einzelne, was sie als Vermummung wertete. Nachdem die Polizei auch nach einer längeren Wartezeit den Demonstrierenden ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verweigerte, setzte sich die Demonstration trotzdem in Bewegung. Es folgten mehrere heftige Angriffe der Polizei auf die friedliche Demonstration.“

Laut der Sanitätsgruppe wurden dabei zahlreiche Demonstrierende verletzt, allein 38 durch Pfefferspray. Fünf Personen erlitten Platzwunden und andere Verletzungen, die chirurgisch versorgt werden mussten. In mindestens einem Fall war eine Krankenhausbehandlung notwendig, hieß es weiter. Aufgrund des massiven Gewalteinsatzes der Polizei, musste die Demonstration am Karlsplatz nur wenige Meter von der Auftaktkundgebung entfernt für beendet erklärt werden.

Ein dritter unerfreuliche Vorfall ereignete sich kurz darauf bei der Ankunft vieler Demonstrierender am „1. Mai-Fest“ am Linken Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart-Heslach. „Auch hier tauchte die Polizei mit einem Großaufgebot auf und griff unerwartet Teilnehmer:innen an. Es kam erneut zu einem Pfeffersprayeinsatz und Verletzten.“ Die Sanitätsgruppe Süd-West e.V. zeigte sich sprachlos angesichts des „eskalativen Vorgehens der Polizei und der massiven Gewalt, die von den Einsatzkräften gegen friedliche Demonstrant:innen eingesetzt wurde“. Im Sinne einer Prävention künftiger Ereignisse dieser Art mit vielen Verletzten kritisiert der Verein das Verhalten der Polizei scharf und fordert die Behörde auf, zukünftig die Grundrechte von Demonstrierenden zu wahren.

Berlin: Sozialismus oder Barbarei, ist unsere Antwort klar!

In Berlin fand am frühen Abend nach zahlreichen beendeten Veranstaltungen die gewohnt kämpferische „Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration“ statt, an der sich traditionell auch die kurdische Community beteiligt. Das Motto lautete: „Kein Frieden mit dem Krieg! Organisieren! Streiken! Sabotieren! Für die soziale Revolution weltweit“. Das Organisationsbündnis schätzte die Zahl der Teilnehmenden auf etwa 20.000. Auch hier war die Polizei mit einem Großaufgebot vor Ort. Im Aufruf zur Demonstration hieß es:

Die Demospitze | Foto: Revolutionärer 1. Mai-Bündnis

„Für uns, die wir von unserer Arbeitskraft leben müssen, sind mittlerweile unsere elementarsten Bedürfnisse von tiefer Unsicherheit geprägt. Werde ich von meinem von der Inflation gefressenen Lohn leben können? Werde ich meinen Kindern bei der nächsten Mieterhöhung noch ein Dach über dem Kopf bieten können? Gibt es am Ende nicht mal mehr für mich als Erwerbslosen etwas bei der Tafel? Bedeutet mein Älterwerden, ins Elend zu gehen?

Die Solidarität für die Ukraine hat nun mal ihren Preis, sagen die Herrschenden. Aber wo ist diese vielbeschworene Solidarität beispielsweise, wenn die Türkei Kurdistan bombardiert, Giftgas einsetzt, ganze Landstriche besetzt und die Bevölkerung massakriert? Hier wird der in der Tat völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verurteilt, dort wird der Schlächter Erdogan fleißig unterstützt. (…)

Um unsere Klasse in vielfältiger Weise zu spalten und zu zerstreuen, werden von den Herrschenden immer mehr altbekannte Mittel verwendet. (…) Unsere Macht gegen die Macht der einzelnen Kapitalbesitzenden und Privateigentümer:innen ist die der Vielen unserer Klasse! Organisieren wir uns in Betrieben, Stadtteil-, Frauengruppen, Mieterinis, Betrieben und Gewerkschaften … (…) Die Gefahr eines dritten Weltkrieges oder einer Klimakatastrophe, durch die unser Planet vor die Hunde zu gehen droht, ist aktuell in aller Munde. Der Kapitalismus kann für diese Krisen keine Lösungen präsentieren, denn er ist ihre Ursache. Wenn also heute wie vor hundert Jahren die Frage im Raum steht: Sozialismus oder Barbarei, ist unsere Antwort klar! Kein Frieden mit dem Krieg! Organisieren! Streiken! Sabotieren! Für die soziale Revolution weltweit!“

Interventionistische Linke

Das Organisationsbündnis der revolutionären Mai-Demonstration in der Hauptstadt bewertete die hohe Zahl an Teilnehmer:innen als Erfolg - aber auch als „Ausdruck der zugespitzten Verhältnisse“ in Deutschland. „Wir haben ein Zeichen gegen die herrschenden Verhältnisse gesetzt und gezeigt, dass viele genug haben von Krieg, Krisen und staatlicher Gewalt“, betonte das Bündnis.