Die AKP konnte bei den Wahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament der Türkei am 14. Mai in den vom Erdbeben besonders schwer betroffenen Gebieten hohe Stimmanteile einfahren. Das wirft angesichts des katastrophalen Krisenmanagements und der systematischen Diskriminierung ganzer Landstriche durch das Regime Fragen auf. Die Regierung hatte die Rettung unter anderem durch die Drosselung des Internets behindert und ist so für unzählige Tote mitverantwortlich, gleichzeitig wurde zivile Hilfe blockiert, Zelte wurden verkauft statt verteilt und Rettungsarbeiten begannen häufig oft erst, nachdem kaum noch Hoffnung für Überlebende bestand. Der Rechtsanwalt Ali Bilgin, Provinzkoordinator des zivilen Wahlbeobachtungsvereins „Oy ve Ötesi" in Hatay, einer der Provinzen, in denen das Erdbeben die größten Zerstörungen angerichtet hat, analysiert die Gründe für das angesichts der dortigen Realität absurd wirkende Wahlergebnis im ANF-Gespräch. Bilgin leitet den Koordinierungsausschuss für Wahlsicherheit der Anwaltskammer Hatay und befindet sich im Provinzvorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP).
„Kein gesellschaftlicher Widerhall des Aufschreis der Menschen“
Bilgin sieht einen Grund für den hohen Stimmenanteil der AKP in Hatay in der Tatsache, dass die AKP ihrer eigenen Basis nach dem Erdbeben sehr schnell Hilfe zukommen lassen hat. Bilgin berichtet, dass sämtliche Hilfen wie Zelte, wirtschaftliche Unterstützung, Spenden und Ramadan-Hilfsprogramme an die AKP-Basis gegangen seien. Es habe zwar einen berechtigten Aufschrei unzähliger Betroffener darüber gegeben, dass der Staat nach dem Erdbeben keine Hilfe geleistet habe, diese Situation habe aber kein gesellschaftliches Echo in Form von Widerstand erfahren.
Vierfache Hilfe für AKP-Unterstützer
Die AKP-nahen Organisationen, Kommunalverwaltungen und religiösen Stiftungen hätten den AKP-Wähler:innen bevorzugt Hilfe zukommen lassen. Bilgin beschreibt, dass beispielsweise in Antakya die Viertel mit einem hohen Anteil an AKP-Anhänger:innen viermal mehr Hilfe erhalten hätten, als die Stadtteile, die der Opposition nahestehen. Auch die ersten evakuierten Erdbebenopfer seien AKP-Unterstützer gewesen, sagt Bilgin und führt aus: „Obwohl die AKP-nahen Orte in Hatay wie Yayladağı, Altınözü, Reyhanlı, Teile von Iskenderun, Dörtyol, Erzin und Hassa weniger vom Erdbeben betroffen waren, wurde diesen durch die AKP, die Katastrophenschutzbehörde AFAD und Kızılay [Türkischer Roter Halbmond] Hilfe in außerordentlichem Ausmaß geleistet. Während eine Person, die in Defne lebt, eine Hilfslieferung erhielt, erhielt eine Person aus den aufgezählten Bezirken, die kaum vom Erdbeben betroffen waren, die aber die AKP unterstützen, das Dreifache an Hilfe. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich kritisiere nicht die Hilfe für diese Viertel, aber ich kritisiere, dass in Defne keine Hilfe ankommt.
„Sie haben das Erdbeben als Gelegenheit genutzt“
Indem die AKP ihre Macht als Regierungspartei nutzte und die Ortsvorsteher organisierte, konnte sie ihre Wählerschaft in den Erdbebenregionen auf außergewöhnlichem Niveau schamlos festigen. Konkret heißt das, dass die Regierung den Vierteln, in denen ihre Anhänger wohnen, das Vierfache an Hilfe zukommen ließ, statt allen Menschen sofort zu helfen. Auch die Zelte wurden ungerecht verteilt. Während die Zelte für die Menschen in den am schwersten vom Erdbeben betroffenen Vierteln, die der Opposition nahestehen, erst im März ankamen, erhielten viele Bezirke und Viertel mit regierungstreuer Wählerschaft, in denen die Auswirkungen des Erdbebens viel weniger zu spüren gewesen waren, bereits am 10. Februar Zelte. Mit anderen Worten: Die AKP nutzte das Erdbeben, indem sie ihre wirtschaftliche Macht einsetzte, um ihre eigene Wählerschaft zu konsolidieren.“ Daher sei es nicht überraschend, dass Erdoğan in Hatay fast 50 Prozent der Stimmen erhalten habe.
CHP-Bürgermeister hat versagt
Auch der CHP-Bürgermeister von Hatay, Lütfü Savaş, habe versagt, erklärt Bilgin und berichtet: „Aufgrund seiner vorherigen, auf Abbau von Dienstleistungen und Profitorientierung basierenden Politik, war auch er beim Erdbeben nicht handlungsfähig. Er war nicht in der Lage, Hilfe zu koordinieren oder überhaupt zu helfen. Er mag selbst ein Erdbebenopfer sein, aber letztendlich ist die Leitung einer Stadtverwaltung nicht mit der Leitung einer Schule oder eines Supermarkts zu vergleichen. Wir sollten hier auch einen der Gründe sehen, warum die Stimmen der CHP nicht zugenommen haben.“
„Die Hauptopposition organisierte sich nicht gut“
Bilgin betonte, dass die Hauptopposition nicht nur beim Erdbeben, sondern auch bei den Wahlen unorganisiert und nicht in der Lage gewesen sei, die Urnen zu schützen. Er erinnert daran, dass es in einigen Kreisstädten in Hatay nicht einmal Wahlbeauftragte der Opposition gegeben habe, und erklärt: „In Hatay gelang es der Hauptopposition nicht, sich gut zu organisieren. Natürlich begünstigte diese Situation auch Erdoğan. Er warb über seine Dorfvorsteher und seine Verbände insbesondere in den rechts geprägten Gebieten und gewann Stimmen, weil es in vielen Kreisstädten nicht einmal Wahlbeauftragte und Wahlbeobachter der Nationalen Allianz gegeben hat. Wo es rechtsgerichtete Wähler gibt, sollten normalerweise Beobachter der IYI Parti oder der Saadet- und Deva-Partei anwesend sein, oder? Aber die waren nicht da. Die AKP war dort alleine und konnte dort Stimmen stehlen. Die Wahlurnen in Defne wurden geschützt, aber dort wählen sowieso 90 Prozent Kılıçdaroğlu. In Orten wie zum Beispiel Reyhanlı gab es keinerlei Wahlbeobachtung. Am Tag der Wahl gab es zahlreiche Berichte über Unregelmäßigkeiten, zum Beispiel dass mehr als eine Person die Wahlkabine betraten.“
„Beobachter:innen sind ihres Lebens nicht sicher“
Bilgin betont, dass sich die Hauptopposition für die Stichwahl dringend organisieren und am Wahltag in allen Wahllokalen Beobachter:innen anwesend sein müssten. Das gelte insbesondere für Gebiete mit rechter Hegemonie. Zur Arbeit von Oy ve Ötesi sagt Bilgin: „Nur sehr wenige Freiwillige von Oy ve Ötesi wollen in diese von der Rechten dominierten Bezirke, die ich gerade erwähnt habe, gehen. Denn dort sind sie ihres Lebens nicht sicher. Vor allem jetzt, da sie von Süleyman Soylu [Innenminister] als Angriffsziele markiert wurden, ist es für sie viel schwieriger, sich dort aufzuhalten. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte der Anwaltskammer können nur auf Anforderung in diese Regionen gehen. Wenn es niemanden gibt, der einen Verstoß feststellt und die Anwälte ruft, ist es nicht möglich, diese Verstöße zu dokumentieren. Daher sollten, wie ich bereits erwähnt habe, Beobachter von Parteien wie IYI, Saadet, Deva oder DP in diesen Gebiete sein.“
„Die Vatan-Partisi hat ein großes Verbrechen begangen“
Ein weiterer Grund für den hohen Stimmanteil der AKP in Hatay sei, dass mindestens 32.000 Mitarbeiter der Sicherheitskräfte in den Schulen, in denen sie Dienst taten, ihre Stimme abgaben. Außerdem habe die Vatan-Partei ein schweres Verbrechen begangen, als sie unzählige Menschen ohne ihr Wissen als Wahlverantwortliche registrieren ließ und diesen so die Wahl massiv erschwerte, da für diese eine Wahl in ihren Wahllokalen nicht ohne weiteres möglich war, so Rechtsanwalt Bilging: „Mindestens 20 Personen riefen mich an und teilten mir mit, dass sie nicht wählen konnten, weil sie in den Wahllokalen, in denen sie zur Wahl gingen, als Wahlhelfer ausgewiesen waren. Wir sagten ihnen, sie sollten sich an den Hohen Wahlausschuss wenden, und erfuhren so, dass all diese Personen von der Vatan-Partisi ohne ihr Wissen als Wahlbeobachter beim Hohen Wahlausschuss gemeldet worden waren. Warum wohl hat die Vatan-Partisi das insbesondere in Dîlok (tr. Antep) gemacht, wo es eine große Wählerschaft der Grünen Linkspartei gibt, und in Defne, wo die Opposition stark ist? Das muss die Staatsanwaltschaft die Vatan-Partisi fragen.“
„Hauptoppositionsparteien müssen sich diesmal mehr anstrengen“
Bilgin erinnert daran, dass die Opposition für die Sicherheit der Wahlurnen sorgen müsse, wenn im zweiten Wahlgang in Hatay nicht ein 50:50-Ergebnis erzielt werden solle. Er appelliert insbesondere an die Parteien am „Sechsertisch“ der Opposition, die viele Abgeordnete gewonnen haben, „wenn möglich bei diesen Wahlen, doch etwas mehr zu arbeiten“.