„Über Seyit Evran zu sprechen bedeutet, über eine Revolution zu sprechen“

Der Journalist Zınar Yıldız erinnert an Seyit Evran: „Über Seyit Evran zu erzählen, heißt nicht, über einen Revolutionär oder einen Journalisten zu berichten, sondern über eine Revolution.“

Vor einer Woche starb der Journalist, Revolutionär und Guerillakämpfer Seyit Evran in Rojava an einem Herzinfarkt. Sein Weggefährte, der Journalist Zınar Yıldız, hat sich im ANF-Interview über Evrans Kampf geäußert.


Wie und wann haben Sie Seyit Evran kennengelernt?

Ich habe Seyit Evran zunächst nicht persönlich kennengelernt. Er war ein Freund, dessen Namen ich schon zuvor im Zusammenhang mit dem revolutionären Kampf Kurdistans immer wieder gehört hatte. Wir verfolgten die Publikationsorgane des Widerstands, Zeitungen, Zeitschriften usw. Vom Beginn meiner Beschäftigung mit dem Freiheitskampf an kannte ich Seyit Evran namentlich und las seine Schriften. Nachdem ich mich dem Kampf angeschlossen hatte, bekam ich die Gelegenheit, ihn im Guerillagebiet persönlich zu treffen. Es war mir eine Ehre, ihn im Kampf sowohl als Journalisten als auch als Revolutionär kennenzulernen.

Die Geschichte, wie ich Seyit Evran besser kennengelernt habe, ist eine besondere. Es gab Zeiten, in denen wir zusammen waren oder uns in verschiedenen Situationen trafen. Aber es gab eine Zeit, in der wir tief verbunden waren und unsere Hevaltî [genossenschaftliche Freundschaft] sich vertiefte. Eines Tages sahen wir uns sein Fotoalbum. Unter den Guerilla-Fotos sah ich das Foto eines Freundes, mit dem ich mich zusammen der Guerilla angeschlossen hatte. Als ich nach ihm fragte, sagte Heval Seyit, dass er gefallen sei. Ich hatte keine Ahnung, dass der Freund gestorben war. Ich war mit ihm gemeinsam von der Universität zur Guerilla gegangen, und das berührte mich zutiefst. Es gab diesen Moment, in dem wir uns umarmten und weinten.

In den folgenden Zeiten haben wir uns in denselben Institutionen, in denselben Gebieten und in denselben Arbeitsbereichen aufgehalten. Während der Entwicklung der Rojava-Revolution kamen wir fast zur selben Zeit nach Rojava. In Rojava kreuzten sich unsere Wege immer wieder und es gab auch Zeiten, in denen wir zusammen waren.

Ein Journalist der Revolution“

Was zeichnete Ihrer Meinung nach Seyit Evran aus?

Heval Seyit war ein Genosse, der zuallererst den Schmerz seiner Weggefährten spürte. Er wusste wirklich, wie man ein Heval ist. Er fühlte den Freund. Er konnte dessen Freude, seinen Schmerz und sein Glück gleichzeitig fühlen und teilen. Ich habe vor allem das bei Heval Seyit in Bezug auf Genossenschaftlichkeit beobachtet. Als ich das Foto in seinem Album sah und er mir sagte, dass der Freund gefallen sei und sich meine Augen mit Tränen füllten, umarmte er mich. Ich hatte nichts zu ihm gesagt, aber er hat es in diesem Moment gespürt. Das hat mich sehr berührt. Nach diesem Vorfall lernte ich ihn bei unserer gemeinsamen Arbeit noch besser kennen.

Als Journalist hatte Seyit eine Persönlichkeit, die alles hinterfragte. Er war ein Mensch, der sich mit dem, was er sah, nicht zufriedengab. Bei jedem Ereignis, das er untersuchte, fragte er nach den Hintergründen und den Konsequenzen. Er nahm nicht einfach nur auf, was er sah. So wie seine Beziehungen zu den Menschen betrachtete er auch die Ereignisse, die er untersuchte, und versuchte das Unsichtbare sichtbar zu machen. Das machte Heval Seyit zu einem regelrechten Forscher. Wenn es darum geht, revolutionären Journalismus zu betreiben, waren Heval Seyits Charakter und Persönlichkeit dafür sehr geeignet, und diese Eigenschaften machten ihn so erfolgreich in seiner Arbeit.

Sein hinterfragender Charakter brachte ihn dazu, die Dinge nicht so hinzunehmen, wie sie waren. Er war ständig auf der Suche nach Veränderung. Wie können wir als Revolutionäre das Bestehende verändern? Wie können wir korrigieren, was falsch ist? Dafür kämpfte er, danach suchte er.

Keine Sitzung, an der Heval Seyit teilnahm, verging ohne Kritik, und es wurden immer wieder neue Entscheidungen getroffen. Es herrschte eine Atmosphäre ständiger Diskussion, in der das Bestehende in Frage gestellt und versucht wurde, das Neue zu definieren. Das waren seine Eigenschaften, an denen wir uns alle ein Beispiel nahmen.

Darüber hinaus gibt es viele Merkmale, mit denen man ihn charakterisieren kann. Er war in vielen Bereichen ein Vorreiter, von seiner Opferbereitschaft bis zu seinem Sinn für Humor. Er konnte in allem einen Aspekt finden, über den er lachen konnte. Selbst in den negativsten Angelegenheiten entdeckte er Aspekte, über die man lachen konnte, an denen man seine Moral stärken und sich motivieren konnte. Solche Eigenschaften sind für einen kurdischen Revolutionär und Guerillakämpfer, für diejenigen, die an unmöglichen Orten für die Revolution einstehen, Gold wert. Vor allem, wenn wir an die heutige Zeit denken, ist es doch die Aufgabe eines jeden Revolutionärs, unter den schwierigsten Bedingungen, in den schwierigsten Zeiten, zu motivieren, Moral, Begeisterung, Hoffnung und Werte zu schaffen. Dies war eine der wichtigsten Eigenschaften, die Seyit auszeichneten.

Er hatte die Eigenschaften eines Forschers, er konnte herausfinden, was sonst niemand wusste. Wir haben oft in Rojava zusammengearbeitet. Wenn Heval Seyit beispielsweise an Informationen herankam, Einschätzungen und Analysen vornahm, sagten die Freunde, dass sie diese Dinge vorher nicht wussten. Obwohl sie aus Rojava waren, kannten sie die soziale, historische, politische Struktur und Geografie nicht so gut wie Seyit. Er hat auch in Südkurdistan gearbeitet. Ein Freund aus Südkurdistan, der gerade bei uns ist, sagte: „Wir kannten viele Stämme nicht, aber Heval Seyit kannte sie.“

Er hatte gute Beziehungen zu den Menschen. In seinen elf Jahren Arbeit in der Rojava-Revolution werden Sie keine Familie, kein Kind, keine Frau, keinen Mann, keinen älteren Menschen finden, die Seyit nicht mochten, liebten, annahmen und akzeptierten. Er verband sich mit den Menschen und erzeugte in ihnen Liebe und Akzeptanz.

Er betrachtete Journalismus als Revolution“

Seyit Evran wurde als „das Gedächtnis der freien Presse“ bezeichnet. Was für ein Erbe hinterlässt er?

Die Tatsache, dass er das Gedächtnis der freien Presse war, hängt damit zusammen, dass er an dieser Arbeit von Beginn an teilgenommen hat. Seit Anfang der 1990er Jahre, als er sich dem Kampf anschloss, war er ständig in der Pressearbeit tätig. Er arbeitete in ganz Kurdistan sowie in Russland, Armenien und im Kaukasus. Er war in vielen Bereichen der Presse tätig. Er hat in vielen Bereichen der Printmedien, den visuellen Medien und im Radio gearbeitet. Darüber hinaus war er auch als Schriftsteller tätig. Er sammelte die Erinnerungen von Kämpferinnen und Kämpfern bei der Guerilla und verfasste Bände mit Guerilla-Memoiren. Eine Zeit lang ging er in den Gebieten von Qendîl und Xinêre von Einheit zu Einheit und sammelte mit seinem Diktiergerät die Erinnerungen der Kämpferinnen und Kämpfer. Er nahm diese Erinnerungen mit, legte den Laptop in der Dunkelheit der Nacht auf seinen Schoß und schrieb eine Geschichte nach der anderen auf. Mit diesen Guerilla-Erinnerungen schuf er ein großes Gedächtnis. Es entstand eine wunderbare Sammlung. Es gab keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Presse, die er nicht kannte und die er nicht ausgebildet hat. Es gibt keine Recherche, von der er nicht wusste. Was Heval Seyit zum Gedächtnis der freien Presse macht, ist die Arbeit, die er dafür geleistet hat, seine Aufopferung und das, was er für die freie Presse geschaffen hat. Es war Seyit selbst, der Seyit zum Gedächtnis der freien Presse machte. Er selbst war das Gedächtnis.

Heval Seyit war zwar Journalist, hat das aber nie als Beruf betrachtet. Er verfolgte nicht nur die Ereignisse und betrachtete es als einen Job, die Ereignisse wiederzugeben oder sie in ein Produkt zu verwandeln. Er verstand den Journalismus als eine Revolution. Für Seyit war Journalismus eine Arbeit daran, das Unsichtbare zu zeigen, die Fehler des Sichtbaren aufzudecken und deutlich zu machen, was sein sollte. Das bedeutet revolutionär zu sein.

Sein Ziel war es, das revolutionäre Leben ins Volk zu tragen“

Er hat die Pressearbeit in Nord- und Ostsyrien organisiert. Sein Interesse an der Revolution von Rojava war groß. Er hat seine revolutionäre Arbeit nicht vom Journalismus getrennt. Einer seiner grundlegendsten Ansätze war es, die Arbeit, die Prozesse der Revolution, die Revolution selbst zu zeigen, die Revolution zu erklären, und die Ziele und das Leben revolutionärer Menschen ins Volk zu tragen. Wo immer er hinging, machte er Analysen und schrieb seine Beobachtungen auf. Er notierte seine Erinnerungen an die Revolution, sein Leben, welcher Guerillakämpfer wie unter welchem Stein ruht. Er schrieb, welcher Guerillakämpfer welche Hoffnung in welcher Blume sieht. Mit anderen Worten: Er versuchte, die Guerilla in ihrem Leben, ihrer Liebe, ihrem Krieg und ihrem Kampf zu porträtieren. Auf diese Weise zeigte er dem Volk, was es bedeutet, revolutionär zu sein. Er sammelte Erinnerungen an die Gefallenen, aber er schrieb nicht nur über Gefallene. Die Erinnerungen der lebenden Freundinnen und Freunde, das Leben der Revolutionäre, wie ein Revolutionär lebt, welche Schwierigkeiten kurdische revolutionäre Menschen haben, wie sie kämpfen, wie sie Hindernissen begegnen, das alles hat er aufgeschrieben. Seyits Ziel war es, das revolutionäre Leben wenigstens ein bisschen unter das Volk zu bringen und es den Menschen vorzustellen. Das ist ihm auch gelungen. Denn es gibt Hunderte von jungen Menschen, die sich durch seine Schriften, Beobachtungen und Analysen diesem Kampf angeschlossen haben. Es gibt Hunderte Menschen, die durch seine Guerilla-Erinnerungen beeinflusst wurden und beschlossen haben, revolutionär zu werden. Über Seyit zu berichten, heißt nicht, über einen Revolutionär oder einen Journalisten zu berichten, sondern über eine Revolution.

Was bedeutet es nun, Seyit Evran nachzufolgen?

Er war Teil einer Tradition. Er stand in einer Linie, die mit Musa Anter über die bombardierte Zeitung Özgür Ülke weiterging und er war ein Genosse von Gurbetelli Ersöz. Er war jemand, der viel zu dieser Tradition beigetragen hat. Ein Nachfolger von Seyit Evran zu sein, bedeutet also, ein Anhänger einer Tradition zu sein. Wenn wir dieser Tradition folgen wollen, müssen wir den Kampf weiterführen. In diesem Kampf ist es wichtig, der Linie zu folgen, die Seyit Evran geschaffen hat und die sich in dem zeigt, was er geschaffen hat und in seinem Verständnis von Journalismus. Es bedeutet, in einer Tradition zu stehen, die hinterfragt, die das Bestehende nicht akzeptiert und die sich in einfacher und konkreter Sprache auszudrücken vermag. Wenn wir Seyit Evran weiterleben lassen wollen, müssen wir unsere Entschlossenheit zum Kampf stärken. Wir können bei Seyit sehen, welcher Weg und welche Methode des Kampfes größere Ergebnisse bringt, und wir können Seyit nachfolgen, indem wir diesen Weg fortsetzen.