Franziska Stier, Parteisekretärin von BastA! (Basels starke Alternative), arbeitet seit vielen Jahren solidarisch mit der kurdischen Freiheitsbewegung zusammen. Gegenüber Medya News hat sie sich zu der Bedeutung von Abdullah Öcalan und die mögliche Anwendung seiner Ideen gegen den Rechtsruck in Europa geäußert.
Können Sie sich kurz vorstellen?
Mein Name ist Franziska Stier. Ich bin geboren in Deutschland und dann in die Schweiz ausgewandert und habe dort erst als Gewerkschaftssekretärin gearbeitet und nun bei BastA. Aber natürlich sind Gewerkschaftsanliegen immer noch ein ganz zentrales Thema für mich, genau wie die Frauenbewegung, die feministische Bewegung und auch die internationale Solidarität. Das heißt, ich war allein in diesem Jahr zweimal in der Türkei, einmal in Kurdistan, um die Wahlen zu beobachten, die Kommunalwahlen in Wan, Agirî and Îdir, und ein zweites Mal, um den Suruç-Prozess zu begleiten.
Wir wollen heute im Interview über die kurdische Bewegung reden und über ihren Repräsentanten, der seit über 25 Jahren in Isolationshaft sitzt auf der Gefängnisinsel Imrali in der Türkei, über Abdullah Öcalan. Können Sie uns sagen, was für eine Bedeutung Abdullah Öcalan für Sie persönlich hat?
Für mich persönlich als feministische Sozialistin ist das Paradigma von Abdullah Öcalan eine große Bereicherung, weil es die ökologische Frage, die feministische Frage, die Frage der Demokratie und aber auch eine soziale Frage zusammenbringt. Obwohl es zwar eigentlich immer eine Verbindung zwischen der Ökologie, der Gleichstellung und der sozialistischen Bewegung gab, spielte das parteipolitisch meist eine untergeordnete Rolle. Das hat sich erst in den letzten 20 Jahren geändert und heute sind es tatsächlich die sozialistischen Parteien, die für Klimagerechtigkeit streiten, und das auf einer internationalen Ebene.
Aber wie gesagt, das ist relativ jung. Gleichzeitig bietet der demokratische Konföderalismus eine unglaubliche Chance. Er ist ja sozusagen als ein sozialistisches Pendant für multiethnische Gemeinschaften geschaffen worden und darüber hat man sich in Europa ganz lange keine Gedanken gemacht. Aber Kriege, Armut, der Ökozid machen Europa zunehmend auch zu einer multiethnischen und multireligiösen Gemeinschaft und wir müssen uns unbedingt Gedanken darüber machen, wie wir all die Menschen, die in Europa ein neues Zuhause suchen, in die politische Arbeit, in die Gemeinschaft sozusagen einbringen. Und da hat der demokratische Konföderalismus einige Antworten, die ich sehr wichtig finde.
Sie haben angesprochen, dass das Paradigma von Abdullah Öcalan auch eine Lösung und Alternative für europäische Gesellschaften bieten kann. Wieso ist es dann so, dass viele europäische Ländern und Institutionen trotzdem schweigen angesichts der über 25 Jahre andauernden Isolationshaft von Abdullah Öcalan?
Einer der wichtigen Player innerhalb der Europäischen Union ist Deutschland. Und Deutschland hat eine lange Geschichte und pflegt seit vielen Jahrzehnten sehr gute Beziehungen zum türkischen Staat. Das beginnt bereits im Dritten Reich mit der Wehrmacht, die unter anderem türkische Soldaten ausgebildet hat, und reicht bis hin zu den Gefängnissen, beispielsweise die Typ-F-Gefängnisse, die nach deutschen Vorbildern errichtet wurden. Man kann also durchaus von Abhängigkeiten und auch von Interessen-geleiteter Politik sprechen.
Ich meine das nicht nur in einem abschätzigen Sinn, aber natürlich auch, insbesondere, wenn wir uns den Flüchtlingsdeal anschauen. Europa insgesamt zeigt an der Grenze, aber auch bei Verhandlungen mit neuen Rohstofflieferanten, dass Menschenrechte nicht der Kern der europäischen Wertegemeinschaft sind. Und die zunehmenden Krisen und Kriege lassen die Länder viel stärker auf ihre eigenen Interessen schauen und den internationalen Kontext viel stärker in den Hintergrund treten, zumindest all das, was tatsächliche Lösungen aus der kapitalistischen, imperialistischen Krise bringen würde.
Kurzum, es gibt in den herrschenden Verhältnissen, zumindest von den Mächtigen, von den Herrschenden, gar kein Interesse daran, dass Abdullah Öcalan freigelassen wird. Worauf ich hinaus will, ist dass wir von den Herrschenden natürlich keine Unterstützung erwarten können, aber es leben ja mehr als 1,5 Millionen Kurdinnen und Kurden in Europa, vermutlich sogar deutlich mehr. Viele von ihnen organisieren sich und streiten unter anderem für die Freilassung Abdullah Öcalans.
Es ist nun also sehr wichtig, dass all diese Leute sich auch in den linken und progressiven Parteien in Europa organisieren und ernste und starke Ansprechpartner:innen sind, damit auch die linken Parteien aus der Defensive kommen und wieder viel stärker für Menschenrechte einstehen können. Wir erleben überall in Europa einen totalen Rechtsrutsch und die gesamte politische Diskussion findet auf einer Ebene statt, in der sozialistische oder Ideen der Befreiung überhaupt nicht vorkommen. Wir haben auf der einen Seite protektionistische bis rechtsradikale Kräfte, auf der anderen Seite liberale und wirtschaftsliberale Kräfte, aber die Perspektive der Menschen, die Perspektive der Befreiung der Frauen, der Ökologie kommt dort nicht vor. Und natürlich haben wir von den Liberalen nichts zu erwarten und die Rechten gilt es, um jeden Preis zu bekämpfen. Aber das schaffen wir nur gemeinsam.
Sie sagen, dass in Europa ein Rechtsruck stattfindet, der überall spürbar ist. Das ist bei den EU-Wahlen und bei den Wahlen in Frankreich sehr klar geworden. Wie können die Ideen von Abdullah Öcalan eine Antwort und eine Perspektive bieten gegen diesen Rechtsruck?
Ich glaube, es gibt verschiedene Ebenen, auf der wir hier diskutieren. Das eine ist natürlich, dass die Ideen Abdullah Öcalans die politische Linke in Europa in unterschiedlichem Maße beeinflussen. Aber natürlich hat auch Abdullah Öcalan seine sozialistischen, kommunistischen Klassiker gelesen und sein Paradigma funktioniert für Kurdistan wunderbar, eben für diese multiethnischen, multireligiösen Gemeinschaften. Was ich ganz besonders interessant finde, ist dass er versucht, in diesem Paradigma eine Mitbestimmung von unten zu erarbeiten. Und ich glaube, dass das unglaublich wichtig ist, genauso wie der Einbezug all der Ethnien und Religionsgemeinschaften und natürlich der Frauen. Wir wollen, dass die Menschen ihr Leben selbst gestalten können. Und auf einer kommunalen Ebene ist das total gut machbar. Das hat nicht nur Rojava gezeigt, das haben auch die HDP-Bürgermeister gezeigt bzw. die Menschen in den kurdischen Städten, die sozusagen aus dem Nichts angefangen haben, nach dem ersten großen Wahlerfolg mit unglaublich wenig Geld ihre Kommunen zu gestalten und nach ihren Bedürfnissen, nach den Bedürfnissen der Kinder, der Jugend, der Frauen umzubauen. Und das Spannende dabei ist, dass Menschen so anfangen, für sich selbst und für die Gemeinschaft gleichzeitig Verantwortung zu übernehmen. Wir haben also eine Situation, in der Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung zusammenfallen. Und das ist sozusagen eine revolutionäre Idee. Ich glaube, dass wir daran anknüpfen und so auch sozialistische Perspektiven in unseren Ländern in Europa erarbeiten können, nämlich mit den Menschen, nicht als abstrakte Theorie, sondern ganz konkret. Als BastA haben wir einige Elemente in unser Wahlprogramm aufgenommen, gerade weil uns die Mitbestimmung auf Quartiersebene für die gesamte Bevölkerung unglaublich wichtig ist. Und das geht über das, was das bürgerliche Stimmrecht ist, das ja Migrant:innen in der Schweiz auch nicht haben, noch hinaus. Es geht darum, das eigene Leben selbst gestalten zu können.
Wie ich vorhin schon gesagt habe, sitzt Abdullah Öcalan in der Türkei auf der Gefängnisinsel Imrali seit über 25 Jahren in Isolationshaft. Seit über drei Jahren gibt es gar keine Informationen mehr von ihm. Seine Anwälte und seine Familie haben keinen Kontakt. Was für einen Einfluss würde eine Freilassung von Abdullah Öcalan bedeuten für die politische Situation in der Türkei?
Das eine ist natürlich, dass es Tausende, Zehntausende politische Gefangene in der Türkei gibt. Angefangen von den HDP-Mitgliedern, die im Kobanê-Prozess verurteilt wurden, obwohl sie eigentlich nichts anderes wollten als ein IS-Massaker in Kobanê zu verhindern. Aber es geht auch um Tausende andere, die für Gerechtigkeit, für Frieden, für Demokratie protestiert haben. Und auch für sie alle gilt es zu streiten. Die Freilassung Abdullah Öcalans wäre allerdings ein Schritt, der noch viel weitergeht. Er würde einerseits ganz viele Menschen auch in Europa erleichtern, weil die Besorgnis wirklich groß ist. Aber es wäre auch ein ernsthaftes Signal für einen Richtungswechsel und ein großer Schritt hin zu ernstgemeinten Friedensverhandlungen. Und nichts haben die Menschen in der Türkei mehr verdient als Frieden.