Der Journalist und Schriftsteller Cengiz Çandar kandidiert bei den Parlamentswahlen in der Türkei am 14. Mai für die Grüne Linkspartei (YSP) in Amed (tr. Diyarbakir). Der 75-Jährige ist in Ankara geboren und hat Politikwissenschaften studiert. Seine akademische Laufbahn, die er als Assistent in der Fakultät für internationale Beziehungen an der Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ) in Ankara begann, wurde durch den Militärputsch vom 12. März 1971 unterbrochen. Er floh er nach Beirut bzw. Damaskus, ging später nach Westeuropa und kehrte 1974 nach einer Generalamnestie unter Ministerpräsident Bülent Ecevit in die Türkei zurück. Seit 1976 arbeitet er als professioneller Journalist für zahlreiche Zeitungen. Die kurdische Frage begegnete ihm erstmalig in den 1970er Jahren in Syrien. 1973 lernte er Celal Talabanî, den ersten Präsidenten des Irak nach Saddam, kennen. Danach beschäftigte er sich intensiv mit der kurdischen Frage. Çandar erhielt für seine Publikationen zahlreiche Auszeichnungen. Im August 2016 bekam er einen Forschungsauftrag an der Universität Stockholm. Aufgrund seiner Kandidatur bei den Abgeordnetenwahlen kehrte er nach sieben Jahren zurück in die Türkei.
Als der HDP-Vorsitzende Mithat Sancar ihm mitteilte, dass er in Amed kandidieren könne, sagte Çandar: „Ich bin sehr glücklich darüber, denn ich bin ethnisch türkisch, aber im Herzen aus Kurdistan.“ Das Angebot, als Kandidat der YSP auf Listenplatz 3 in Amed nominiert zu werden, mache ihn stolz und glücklich und er werde für politischen und sozialen Rechte der Kurd:innen kämpfen. Das bekräftigte Çandar auch auf Wahlkampfveranstaltungen, bei denen er die Menschen auf Kurdisch begrüßte.
„Jenseits meiner Vorstellungskraft“
Çandar erklärte gegenüber ANF, sein Empfang in Amed sei „einfach großartig" gewesen. Er habe jedoch beobachtet, dass die YSP eher akzeptiert werde als er selbst. Die HDP als zweitgrößte Oppositionspartei nach der CHP tritt bei den Wahlen aufgrund des laufenden Verbotsverfahrens gegen sie nicht an und unterstützt stattdessen die vor über zehn Jahren gegründete YSP, mit der sie bereits lange zusammenarbeitet. Çandar sagt, dass für die Kandidat:innen der Grünen Linkspartei die Unterstützung und Loyalität der Menschen gegenüber der HDP und der kurdischen Freiheitsbewegung wichtig ist: „Die Bewegung selbst ist tatsächlich da. Ich hatte schon erwartet, dass die Menschen uns gut aufnehmen würden, aber als ich vorhin ,großartig' sagte, meinte ich, dass ich eine Wärme sah, die meine Vorstellungskraft übersteigt. Wir hatten nicht erwartet, dass es so herzlich sein würde. Ohne jede Distanz, ohne die Notwendigkeit, zwischendurch einfache Höflichkeit zu zeigen, sah ich, wie die Menschen uns und mich mit einer großen Welle der Liebe umarmten. Ich sah ihre Augen leuchten."
„Als wäre ich nie von hier weggegangen“
Die Kandidatur stelle für ihn einen neuen Lebensabschnitt dar und er sei glücklich, in Amed zu sein, betont Çandar: „Als ich hier ankam, dachte ich, dass ich das Richtige getan habe. Ich bin noch nicht einmal eine Woche hier und war seit sieben Jahren nicht mehr in der Türkei. Eigentlich wollte ich nach den Wahlen in die Türkei zurückkehren. Plötzlich, als diese Kandidatur aufkam, fand ich mich in der Türkei wieder, einem Land, das ich sieben Jahre lang nicht betreten hatte und in das ich wegen gewisser Risiken nicht gekommen war. Bevor ich das richtig einordnen konnte, fand ich mich in Bezirken und Vierteln von Amed wieder. Es fühlte sich so an, als ob ich ohnehin hier gewesen und nie weggegangen wäre."
„Erdoğan wird die politische Bühne verlassen“
Zum Wahlkampfbesuch des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan in Amed erklärt Cengiz Çandar, dass Angehörige aller öffentlichen Einrichtungen in der Stadt und den umliegenden Orten quasi zur Teilnahme verpflichtet wurden: „Trotzdem haben sich keine 3000 Menschen hier versammelt. Mit wem auch immer ich mich unterhielt, der Besuch von Erdoğan in Amed stand bei niemandem auf der Tagesordnung. Ehrlich gesagt, stand er auch nicht auf meiner Tagesordnung, und es kam mir nicht in den Sinn, jemanden zu fragen. Niemand sagte: ,Tayyip Erdoğan hat an diesem Tag hier eine Rede gehalten und Folgendes gesagt.' Ich habe aus dem Internet erfahren, was er in Amed gesagt hat. Das stand nie auf der Tagesordnung, für Amed ist es nicht wichtig. Den Menschen geht es nur darum, auf den 14. Mai zu warten, damit das Regime der Unterdrückung ein Ende hat. Die Beziehung dieser Region zu Tayyip Erdoğan besteht darin, dass man sehnsüchtig auf den Tag wartet, an dem er gehen wird. Deshalb hat sich die Partei der Grünen Linken ein ehrgeiziges und nicht unrealistisches Ziel gesetzt und will alle zwölf Abgeordnetenmandate in Amed gewinnen. Der AKP und Tayyip Erdoğan läuft die Zeit davon. So Gott will, wird er am 14. Mai von der politischen Bühne im Land und auf der Welt verschwunden sein."