Cengiz Çiçek, der Spitzenkandidat der Grünen Linkspartei (YSP) für den zweiten Istanbuler Wahlbezirk, ist auch Ko-Sprecher des HDK (Demokratischer Kongress der Völker), aus dem die HDP hervorgegangen ist. Çiçek wurde 1978 in Dersim geboren und bezeichnet sich als „Kind einer alevitischen, kurdischen und arbeitenden Familie". Die Familie zog 1985 aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten von Dersim nach Izmir.
Çiçek lebte bis zu seiner Studienzeit in Izmir und kam dann nach Istanbul, um an der juristischen Fakultät der Marmara-Universität zu studieren. Was danach geschah, beschreibt er wie folgt: „Das Kind einer migrierten alevitisch-kurdischen Familie zu sein, hat unsere Mentalität schon sehr früh sowohl klassenmäßig als auch politisch geprägt. Wenn Sie mich fragen, wie ich mich als Kind einer Arbeiterfamilie definieren würde, bin ich jemand, der schon sehr früh mit Klassenwidersprüchen konfrontiert wurde und diesen Klassenhass in sich trägt. Als ich politisches Bewusstsein erlangte, nahm ich als Parteimitarbeiter am kurdischen Freiheitskampf teil, damals in der HADEP. Die Kurdinnen und Kurden kämpfen für einen Status, aber es ist auch ein Kampf mit Arbeitscharakter. Wie ich eingangs erwähnte, bin ich das Kind eines Arbeiters und ich definiere mich sowohl innerhalb des Freiheitskampfes der kurdischen Bewegung als auch als Sozialist."
Der zweite Wahlbezirk in Istanbul: Vielfalt, Geschichte und Widerstand
Der zweite Wahlbezirk in Istanbul umfasst die auf europäischer Seite liegenden Stadtteile Bayrampaşa, Beşiktaş, Beyoğlu, Esenler, Eyüpsultan, Fatih, Gaziosmanpaşa, Kağıthane, Sarıyer, Sultangazi, Şişli und Zeytinburnu. Cengiz Çiçek erklärt zu seinem Wahlkreis, dass die Situation hier auch mit der Idee der HDK übereinstimmt: „Eines der Gründungsziele des HDK ist der Versuch, die Probleme in den Bereichen Identität, Migration, Frauen und Jugend in der Türkei insgesamt, also alle Handicaps des jahrhundertealten monistischen Systems, zugunsten der Unterdrückten zu lösen. Eine unserer Existenzberechtigungen ist es, dieses homogenisierende System zu konfrontieren und zu überwinden und hundert Jahre nach der Republikgründung ein Leben aufzubauen, in dem alle Unterschiede in der Türkei in der Pluralität vereint sind.
Unser Programm als HDK ist kompatibel mit dem der Grünen Linkspartei. Unsere Ziele sind sehr ähnlich, und in diesem Sinne möchte ich noch einmal betonen, dass es mir eine Ehre ist, für die YSP zu kandidieren. Der zweite Bezirk ist ein sehr harmonischer, farbenfroher und andersartiger Bezirk im Kontext der Basis des HDK. Der Bezirk ist geprägt von der Binnenmigration. Viele Menschen sind aus wirtschaftlichen und politischen Gründen hierhergekommen, besonders aus Kurdistan und anderen Provinzen. Es ist ein Bezirk mit einem hohen kurdischen und alevitischen Bevölkerungsanteil. Zugleich ist es ein historischer Ort, an dem Armenier, Christen, Assyrer und Angehörige vieler anderer Völker und Glaubensrichtungen leben. In dieser Hinsicht ist der zweite Bezirk eigentlich ein Ort der Traurigkeit. Die Straßen riechen nach Geschichte und Erinnerungen. Von der Architektur bis zu den Profilen der Menschen ist der gesamte Bezirk eigentlich wie ein Freilichtmuseum für die historischen Ungerechtigkeiten des nationalstaatlichen Ansatzes in der Türkei. Er kann auch als ein Ort beschrieben werden, der unserem hundertjährigen Kampf Bedeutung verleiht und uns im Alltag häufig daran erinnert.
Neben dieser Traurigkeit ist der zweite Bezirk aber auch ein Ort der Freude. Insbesondere der Taksim ist einer der Orte, an denen die AKP/MHP-Regierung in den letzten Jahren ihre Eingriffe in die Lebensweise der Menschen zentralisiert hat. Er ist der Ort des Gezi-Aufstands von 2013, der den historischen Geist des Widerstands am Taksim verkörpert und Millionen Menschen an die Hoffnung auf ein freies und demokratisches Leben erinnert. Als Gesamtheit der Völker der Türkei, der Kurden, der Aleviten, der Armenier, der Assyrer, aller Unterschiede, die der Nationalstaat leugnet, kann er als ein Ort des Widerstands und der Freude gegen alle Arten von monistischen, sektiererischen Machtangriffen bezeichnet werden, wo eine Form des Zusammenlebens erreicht wurde und gleichzeitig das Beharren auf dem Zusammenleben aufrechterhalten wird."
Die Jugend findet ihren eigenen Weg
Bei den Wahlen am 14. Mai gibt es rund sieben Millionen Erstwähler:innen. Cengiz Çiçek sagt, dass er selbst im Alter von 18 Jahren zwangsläufig politisiert wurde: „Der Druck, dem man ausgesetzt ist, wenn man die kurdische Sprache im täglichen Leben benutzt und die eigenen Überzeugungen äußert, die Lynchmorde, die Todesfälle, die Massaker, die Repression, all das bringt einen politischen Transformationsprozess mit sich. Das ist ein ganz natürliches Ergebnis. Ohne die Beharrlichkeit und den Kampf des kurdischen Volkes für ein freies Leben und den Preis, den es dafür gezahlt hat, wären die Kurden heute nicht in der Lage, ihre eigene Realität zu leben. Das Gleiche kann man heute für alle unterdrückten Identitäten sagen. Wenn ein Raum der Freiheit geschaffen wurde, so ist das natürlich dem gesellschaftlichen und politischen Kampf zu verdanken. Wir müssen uns den Kopf und das Bewusstsein freihalten, denn wir sind allen möglichen manipulativen Angriffen ausgesetzt. Die große Unterstützung für die YSP unter jungen Wählerinnen und Wählern zeigt den Politisierungseffekt des kurdischen Volkes und des langjährigen Kampfes für Freiheit und Demokratie auf die Menschen. Dieser Prozess der Politisierung und der Grund für das starke Interesse junger Menschen an der YSP hat etwas mit dem Versagen der Demokratie in der Türkei zu tun. Der politische Prozess wird nicht an Schreibtischen und Akademien produziert. Er findet im Leben und in der Produktion statt. Wir haben es also mit einem ganz natürlichen Ergebnis zu tun. Junge Menschen haben in diesem Land Zukunftsangst. Sie finden keine Arbeit und können sich nicht frei ausdrücken und frei leben. All diese Probleme politisieren die Jugend. Der 14. Mai ist für uns alle der Tag, an dem wir dieses tyrannisch-monistische Verständnis und diese faschistische Macht zur Rechenschaft ziehen werden. Dieser politische Kampf der Jugend erfordert einen weiteren qualitativen Sprung auf dem Weg zu den Wahlen. Er erfordert eine besondere Konzentration. Die Jugend findet ihren eigenen Weg. Die jungen Menschen sind Pioniere. Wir haben volles Vertrauen in ihre Entwicklung und können viel von ihnen lernen. Wir haben den jungen Menschen nichts beizubringen. Der Geist, das Bewusstsein, die Beweglichkeit und die Sehnsucht der jungen Menschen auf ihrer Suche nach einem neuen Leben sind für diese Gesellschaft wirklich notwendig. Deshalb schlagen wir vor, dass sich mehr unserer jungen Genossinnen und Genossen am politischen Kampf unter dem Dach der Grünen Linkspartei beteiligen.
Wenn wir einen Aufruf haben, dann wäre es dieser: Wir können von euch etwas lernen. Wir haben gemeinsam mit euch etwas zu tun. Gemeinsam haben wir einen langen Weg vor uns, um diese Macht, die unser Leben in allen Bereichen bedrängt, wirklich zur Rechenschaft ziehen. Die YSP braucht mehr denn je das Herz, das Bewusstsein, die Entschlossenheit und den Mut unserer jungen Genossinnen und Genossen. Alle können dort etwas aufbauen, wo sie selbst mitreden können. Wir glauben, dass wir, solange wir vereint und zusammen sind, sehr ernste Hindernisse überwinden können und unsere Arbeit viel einfacher sein wird."