Der Journalist und Schriftsteller Hasan Cemal kandidiert bei den Parlamentswahlen in der Türkei im zweiten Bezirk von Istanbul für die Grüne Linkspartei (YSP) und hat sich gegenüber ANF zur Bedeutung der Wahlen am 14. Mai geäußert.
„Ich würde diese Wahlen als historisch oder schicksalhaft bezeichnen. Wir befinden uns an einem kritischen Punkt. In den letzten zwanzig Jahren wurde die Türkei schlecht regiert und ist zu einem Land der Krisen geworden. Jetzt müssen wir dieses Land der Krisen von Grund auf neu aufbauen. Das können wir mit einer demokratischen Republik tun", erklärte der 79-Jährige, der seine journalistische Tätigkeit nach einem halben Jahrhundert für eine Kandidatur auf einen Abgeordnetensitz in der Nationalversammlung der Türkei aufgegeben hat.
Weiter sagte Cemal: „Wir müssen die bestehenden Probleme und insbesondere die kurdische Frage auf den Weg der Lösung bringen. Wir brauchen eine Amnestie, politische Gefangene müssen freigelassen werden. Es ist notwendig, die inhaftierten Journalistinnen und Journalisten freizulassen. Wir müssen die Rechte, das Rechtssystem, die Justiz, die Gerechtigkeit und den Frieden in der Türkei wiederherstellen; die Türkei muss mit all dem wieder aufgebaut werden.
Was die Türkei braucht, ist ein Geist der Versöhnung unter dem Dach des Parlaments zu schaffen und die Probleme mit diesem Geist anzugehen. Bis heute wird die Türkei so behandelt, als gäbe es in der politischen Arena eher Feinde als Rivalen. Die Türkei ist polarisiert. In dieser Atmosphäre wurde nichts getan und sie hat sich verschlimmert, insbesondere durch das Ein-Mann-Regime.
Es gibt eine verrottete und zusammengebrochene Ordnung, die wir ändern müssen, aber der erste Schritt dazu ist, das Ein-Mann-Regime in der Geschichte zu begraben. Wenn es der Türkei nicht gelingt, das Ein-Mann-Regime abzuwählen, werden noch viel schlimmere Dinge passieren."
Die Grüne Linkspartei muss stark ins Parlament einziehen
Cemal wies auf die Bedeutung eines starken Einzugs der Grünen Linkspartei ins Parlament und die Kultur des Kompromisses hin: „Eine starke Fraktion der Grünen Linken würde eine Lösung der kurdischen Frage im Parlament erleichtern und beschleunigen. Aber wir müssen hier auf einen Punkt achten: Jahrelang hat eine Feindbildmentalität die Politik in der Türkei geherrscht. Die eine Seite hat die andere Seite als Feind und nicht als Rivalen gesehen. Diese Mentalität müssen wir ein für alle Mal ausmerzen. Das politische Spiel sollte als ein Kampf zwischen Rivalen und nicht zwischen Feinden gesehen werden. Die Politik in der Türkei muss sich diesen Geist der Versöhnung aneignen. Da wir das bisher nicht geschafft haben, haben wir immer gekämpft, und das hat die Türkei in eine Sackgasse geführt. Finden wir Kompromisspunkte, indem wir sagen: ,Komm, Bruder, setzen wir uns hin, reden wir, bauen wir Dialoge auf, es gibt Punkte, wo du Recht hast, es gibt Punkte, wo ich Recht habe, du gehst irgendwo einen Schritt zurück und ich gehe irgendwo einen Schritt zurück.' So können wir selbst die schwersten Probleme rechtzeitig lösen. Lassen Sie uns diese Mentalität durchsetzen. Es darf in der Politik nicht sein, dass wir uns wie Feinde bekämpfen. Was wir in der kommenden Zeit am meisten brauchen, ist ein Geist der Versöhnung. Wir können keinen anderen Weg einschlagen. Der eine mag sagen: ,Ich habe bis zum Ende Recht', der andere mag sagen: ,Du hast hier nicht Recht'. Wir müssen miteinander reden und die Knoten einen nach dem anderen lösen. Dies ist eine Frage des Wissens, der Geduld und der Führung. Die Menschen, die dieses Thema behandeln, sollten auch ein gutes Verständnis für die Vergangenheit haben.“
Dialog über eine Lösung der kurdischen Frage
Hasan Cemal plädiert dafür, die kurdische Frage am Verhandlungstisch zu lösen: „Zuallererst sollte die Lösung der kurdischen Frage unter das Dach des Parlaments gebracht werden. Es ist notwendig, diese Frage mit allen Feinheiten des Kompromisses, des Dialogs und der Verhandlung anzugehen, indem man die Lösung des Problems über einen längeren Zeitraum verteilt, ohne Eile, ohne Verwechslung der Prioritäten und Schwerpunkte. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass dies nicht einfach ist. Wir müssen jedoch in der Lage sein, das zu erreichen. Es ist klar, dass die grundlegenden Probleme der Türkei, von der Wirtschaft über die Rechtsordnung bis hin zum Justizwesen, nicht gelöst werden können, ohne die kurdische Frage zu lösen.
In Lösungsprozessen gibt es Gesprächspartner, und es ist notwendig, diese Gesprächspartner im Auge zu behalten und Dialogkanäle zu öffnen. Es ist erforderlich, bei der Eröffnung solcher Kanäle äußerst vorsichtig zu sein, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen und nichts zu überstürzen. Wir sollten mit dem beginnen, was einfach ist, und es über die Zeit erstrecken. Das ist machbar. Wir haben aus der Vergangenheit gelernt. Alle Akteure in der politischen Arena sehen die Notwendigkeit dieser Vorgehensweise. Es wird gesehen, dass in der Türkei nichts passieren wird, wenn die kurdische Frage nicht gelöst wird.“