Mit der Forderung „Freiheit für Abdullah Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage“ wird Mitte April ein mehrtägiges Sit-in im Europaviertel in Straßburg veranstaltet. Die Aktion steht im Zusammenhang mit einer gleichnamigen Kampagne, die seit Oktober vergangenen Jahres international geführt wird und fordert, dass sich Öcalan mit seinem Rechtsbeistand und Familienangehörigen treffen darf und schließlich unter Bedingungen freigelassen wird, die es ihm ermöglichen, eine Rolle bei der Suche nach einer gerechten und demokratischen politischen Lösung für die Kurdistan-Frage in der Türkei zu spielen. Der Theoretiker und Anführer der kurdischen Freiheitsbewegung befindet sich seit 25 Jahren als politische Geisel des türkischen Staates auf der Gefängnisinsel Imrali – die meiste Zeit davon unter Bedingungen der totalen Isolation.
Fünftägiger Sitzstreik
Veranstaltet wird das Sit-in vom 15. bis 19. April – der Ort der Aktion wurde sorgfältig gewählt: Das Europaviertel beherbergt viele Institutionen, darunter das EU-Parlament, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), den Europarat und das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT). Letzteres überwacht die Einhaltung der Europäischen Antifolterkonvention durch die Mitgliedsländer des Europarats. Dazu besucht es Gefängnisse, Polizeistationen und andere Orte, an denen Menschen festgehalten werden. Zum Aufgabenbereich des CPT gehört auch die Überwachung der Haftbedingungen Öcalans.
Verletzung der Aufsichtspflicht zur Verhütung von Folter
Die Ausrichtenden des Sit-ins, bei denen es sich um die Verantwortlichen der seit 2012 ebenfalls im Europaviertel stattfindenden Dauermahnwache für den kurdischen Vordenker handelt, kritisieren jedoch, dass das Antifolterkomitee im Fall Öcalan seinen Verpflichtungen nicht nachkomme und werfen dem Gremium eine schwere Verletzung seiner Aufsichtspflicht zur Verhütung von Folter vor. So hatte sich im Februar eine Delegation des CPT in der Türkei aufgehalten und einige Haftanstalten besucht, Imrali jedoch ausgespart und auch keine Begründung dafür geliefert, weshalb eine Inspektion in dem Hochsicherheitsgefängnis, in dem neben Öcalan noch drei weitere kurdische Gefangene festgehalten werden, nicht erfolgt ist. Dazu hält das Aktionskomitee fest:
Drei Jahre totale Isolation
„Am 15. Februar jährte sich die Verschleppung Abdullah Öcalans zum 25. Mal. Unzählige Kurdinnen und Kurden sowie ihre Freundinnen und Weggefährten nahmen dieses Datum in Europa, Kurdistan, der Türkei, in Nord- und Ostsyrien, den USA, Kanada, Indien, Australien, Russland, Armenien und vielen anderen Orten zum Anlass, für seine Freiheit auf die Straße zu gehen und den Europarat sowie das CPT aufzufordern, sich an das Völkerrecht zu halten und die Gerechtigkeit nicht geopolitischen Interessen zu opfern. Diese Proteste fanden zu dem Zeitpunkt statt, als sich die Delegation des Antifolterkomitees in der Türkei aufhielt. Unsere Appelle können dem Gremium nicht entgangen sein.“
Der letzte Kontakt zu Öcalan war ein Telefongespräch mit seinem Bruder im März 2021, das allerdings nach wenigen Minuten unterbrochen wurde. Mit seiner Rechtsvertretung hatte der 74-Jährige zuletzt im August 2019 Kontakt. Nach acht Jahren Unterbrechung waren mit einem von der inzwischen wieder inhaftierten Politikerin Leyla Güven angeführten Hungerstreik insgesamt fünf Anwaltsbesuche durchgesetzt worden. Der letzte Familienbesuch auf der Insel wurde im März 2020 abgesegnet. Die Isolation im Imrali-Gefängnis wurde seither auf das Niveau der totalen Incommunicado-Haft getrieben. Entgegen der europäischen Rechtsprechung, mehrmaligen Aufforderungen des UN-Menschenrechtsausschusses und einer Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist der türkische Staat nicht bereit, die auf Imrali praktizierte Isolation zu beenden. Deshalb hat die Istanbuler Kanzlei Asrin, die Öcalan und seine Mitgefangenen juristisch vertritt, das CPT mehrfach zu Zwangsmaßnahmen gegen Ankara aufgefordert, ist allerdings auf taube Ohren gestoßen. Foto: Gefängniskomplex Imrali aus der Volgelperspektive
Ein Mikrokosmos des Kolonialismus in Kurdistan: Imrali
„Das Imrali-Gefängnis ist ein Mikrokosmos des regionalen und internationalen Kolonialismus, dem Kurdistan seit über einem Jahrhundert unterworfen ist. Öcalan ist es gelungen, die Kurdinnen und Kurden in Theorie und Praxis für einen antikolonialen Befreiungskampf zu mobilisieren und zu organisieren. Dies wird als unverzeihliches Verbrechen angesehen, und er wird unmenschlich bestraft“, erklärt das Öcalan-Aktionskomitee. Der Europarat verfüge über zahlreiche politische, diplomatische und juristische Instrumente, um die Türkei zu zwingen, das Völkerrecht zu achten und Öcalan seine unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte zu gewähren. Diese Fähigkeit habe die Organisation bewiesen, als sie die Mitgliedschaft Russlands ohne zu zögern [im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine] suspendierte und Schritte in Richtung eines Ausschlusses in Erwägung zog. Der Türkei und dem Erdoğan-Regime wird jedoch ein Freifahrtschein für die Nichteinhaltung der Menschenrechte ausgestellt. Eine Entgleisung dieser Art ist unentschuldbar.“
Psychologische Kriegsführung des türkischen Staates
Mit dem Sit-in wolle man den Europarat „aufrütteln“, seiner Pflichten nachzukommen und sicherzustellen, dass die Mitgliedsstaaten „niemanden der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterwerfen“. „Wir möchten auch das CPT auffordern, Öcalan dringend zu besuchen, da das autoritäre Regime unter Erdoğan ihn in einen Zustand der Incommunicado-Haft versetzt hat, die einer extremen Form von Isolation gleichkommt. Diese seit drei Jahren herrschende Ungewissheit über Öcalans Gesundheitszustand und seine Sicherheit ist eine gezielte Politik des türkischen Staates, der damit bezweckt, das kurdische Volk psychologisch unter Druck zu setzen und es kollektiv dafür zu bestrafen, dass es Öcalans Perspektiven für die Freiheit verfolgt. Doch nur seine Ideen und seine Person können eine Lösung der kurdischen Frage ermöglichen; Abdullah Öcalan ist die unverzichtbare Figur, die ein endgültiges Friedensabkommen mit dem türkischen Staat aushandeln kann. Doch dazu muss die Türkei ihm erlauben, mit der Außenwelt zu sprechen.“
Kontakt
Interessierten, die an dem Sit-in teilnehmen möchten, bieten die Veranstaltenden Unterkunft und Verpflegung an. Aufgrund der zu erwartenden großen Teilnehmerzahl können jedoch keine Reisekosten übernommen werden. Anmeldungen und Fragen rund um die Aktionen können über die E-Mail [email protected] an die Organisierenden gerichtet werden.