Der letzte Prozesstag im 129b-Verfahren gegen Kenan Ayaz (offiziell Ayas) vor dem Oberlandesgericht Hamburg begann am Donnerstag mit der Vernehmung des Zeugen Andreas P., einem Beamten des Bundeskriminalamtes (BKA), der sich an alle für die Verteidigung relevanten Details nicht mehr erinnern konnte. Bestätigt hat diese Vernehmung wieder: Die Ermittlungen haben sich nicht an ihren eigenen Widersprüchlichkeiten aufgehalten – alles wurde aus Sicht des beabsichtigten Ergebnisses interpretiert.
„Das Essen ist da“: Codierte Nachricht des Spendensammelns?
„Zirkelschlüsse“ nannte Rechtsanwältin Antonia von der Behrens das nach der Mittagspause in Anträgen der Verteidigung. Ein Beispiel, über das man lachen könnte, wenn es nicht Teil heftigster Repression wäre: Für das unterstellte Sammeln von Geldern für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wurden Textnachrichten vom 10. September 2019 mit Inhalten wie „Wir marschieren noch“ oder „Das Essen ist noch nicht da“ und ein weiteres Mal „Das Essen ist da“ als codierte Nachrichten des Spendensammelns definiert. Auf die Idee, dass es sich tatsächlich um Nahrung handeln könnte, und zwar um schlichte Logistik einer öffentlichen und angemeldeten Großveranstaltung – der „Lange Marsch“ der kurdischen Jugendbewegung für die Freiheit Abdullah Öcalans in jenem Jahr erreichte an diesem Datum gerade Köln – kam die Staatsanwaltschaft nicht.
Anrufe von ausländischen Nummern „Anweisungen der Europa-Vertretung der PKK“
Nicht immer sind die Zirkelschlüsse des BKA oder der Staatsanwaltschaft so offensichtlich zu widerlegen. Ein anderes Beispiel: Da auf einem dem Angeklagten zugeschriebenen Handy im Oktober Geburtstagsglückwünsche empfangen wurden, wird ihm unterstellt, er habe in Zypern falsche Angaben zur Person gemacht – nun sei ja klar, dass sein Geburtstag im Oktober liege – statt des naheliegenden Schlusses, dass diese Nachricht offensichtlich nicht an Kenan Ayaz, sondern an eine andere Person gerichtet war. In dieser Denkweise sind auch Anrufe von ausländischen Nummern „Anweisungen der Europa-Vertretung der PKK“ – ohne zu wissen, ob diese Nummern nicht im Inland genutzt werden. Und so ging es weiter. Ein Lehrstück in manipulativer Sprache, das eine entgrenzte Repression gegen Kenan Ayaz wie gegen die kurdische Freiheitsbewegung verdeutlicht – und zeigt, wie dringlich Solidarität mit ihr und der Kampf gegen das PKK-Verbot sind.
Widersprüche der Verteidigung
Nach der Mittagspause stellte das Verteidigungsteam aus Rechtsanwalt Stephan Kuhn und seiner Kollegin Antonia von der Behrens den Antrag, Kenan Ayaz aus der Untersuchungshaft zu entlassen – und wegen der völlig fehlenden Beweislage den Anklagevorwurf nach § 154a Abs. 2 StPO auf einen Verstoß gegen das Vereinsgesetz im Zeitraum von Ende Februar 2019 bis Ende November 2019 zu beschränken. Neben Anträgen wie zu der durch das BKA abgefangenen SMS „Das Essen ist da“, machten sie in einer Vielzahl von Begründungen die fehlende Beweislage deutlich. Außerdem begründete die Verteidigung ihren Widerspruch gegen das angeordnete Selbstleseverfahren. Dieses bedeutet, dass nicht alle Beweisakten im Verfahren vorgelesen werden müssen, sondern viele eben „selbst gelesen“ werden, was eine wesentliche Auswirkung auf Prozess und Verteidigung hat. „In hoher Dichte und geradezu systematisch sollen unter anderem durch die Einführung der polizeilichen Vermerke des Landeskriminalamtes Bremen die tendenziös übersetzten und interpretierenden Zusammenfassungen von verdeckt aufgezeichneter Telekommunikation aus dem Verfahren gegen Mustafa Çelik sowie die Stimmenerkennung des für das LKA Bremen tätigen Übersetzers eingeführt werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich der als Zeuge gehörte Beamte des LKA Bremen, Kriminalhauptkommissar D., mit Billigung des Gerichts weigerte, den Namen eben dieses Übersetzers zu nennen, auf dessen Interpretationen sämtliche Vermerke des LKA Bremen beruhen.“
Spekulationen von BKA-Ermittlern bekommen Status von Beweisen
Weiter heißt es im Antrag der Verteidigung: „Außerdem werden mit den Ermittlungsvermerken die Bewertungen, die Selektionsentscheidungen und die Würdigungen der eingesetzten Ermittlungsbeamten zum quasi geheimen, nämlich der Öffentlichkeit und einer Einzelaufmerksamkeit entzogenen Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht.“ Das heißt: Die beschriebenen haltlosen Spekulationen der BKA-Ermittler bekommen den Status von Beweisen.
Das Aufblähen der Beweisakten erschwere auch die Verteidigung, zumal ja nur eine Pflichtverteidigerin beziehungsweise ein Pflichtverteidiger bewilligt ist und bezahlt wird, und das darauf angeordnete Selbstleseverfahren in diesem Umfang das Prinzip einer öffentlichen Gerichtsverhandlung massiv aushöhle. Die Hauptverhandlung werde ihres Kerns der Beweisaufnahme faktisch beraubt und zu einer Art Geheimverfahren. Das untermauere den Charakter des Verfahrens als politische Repression und als Geschenk an den Autokraten Erdoğan.
Schon angesichts des offensichtlichen und nicht widerlegten Anscheins, dass der Europäische Haftbefehl gegen Kenan Ayaz im Zusammenhang mit den Diskussionen um den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands und dem Druck der Türkei auf die NATO-Staaten, vermeintliche PKK-Anhänger zu verfolgen, stehe – dass also von einem ausländischen autokratischen Staat Einfluss auf das Verfahren genommen werde, müsse der terroristische Vorwurf fallen gelassen und die Untersuchungshaft für Kenan Ayaz aufgehoben werden, so seine Verteidigung.
Die Verhandlung wird am Montag, 11. Dezember, um 9.30 Uhr fortgesetzt.
Titelbild: Kundgebung und Konzert für die Freilassung von Kenan Ayaz im Oktober 2023 in Hamburg