Der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan bleibt auch nach knapp zwei Jahren Totalisolation weiterhin ohne Kontakt zur Außenwelt. Die türkische Justiz ist nicht gewillt, seine menschenverachtenden Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali zu korrigieren und hält an einer Behandlung nach Feindstrafrecht fest. Letztmaligen Kontakt zu dem 73-Jährigen hatte sein Bruder Mehmet Öcalan im März 2021 in Form eines kurzen Telefonats. Sein Anwaltsteam bemüht sich seit dreieinhalb Jahren wieder vergeblich um eine Besuchsgenehmigung. Das letzte Mal hatte die Verteidigung des PKK-Begründers im August 2019 die Insel im Marmarameer betreten.
Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse, zum türkischen Guantanamo. Um ein Schlaglicht auf die Haftsituation Öcalans und den Mangel an Menschenrechten auf Imrali zu werfen, besuchte eine von der Bewegung freier Frauen Kurdistans initiierte Delegation in der vergangenen Woche den Europarat. Die führende Menschenrechtsorganisation Europas hat zusammen mit ihren Gremien die Aufgabe, über die Rechtsstaatlichkeit in den 47 Mitgliedstaaten zu wachen. Doch die Delegation musste feststellen: „Den europäischen Institutionen fehlt es an schnellen und wirksamen Mechanismen, die es ermöglichen könnten, die Einhaltung der Menschenrechtskonvention und anderer Übereinkommen in der Türkei zu gewährleisten.”
„Bedeutung des Paradigmas“ von Abdullah Öcalan für Frauen
Zu der Delegation gehörten Sawsan Chouman, Leiterin der Nun-Initiative im Libanon, die sich mit der Erforschung und Verbreitung der Philosophie Öcalans unter arabischen Frauen im Nahen Osten und in Nordafrika befasst; die Juraprofessorin Diana Restrepo aus Kolumbien, die sich in Abya Yala (Lateinamerika) für die Rechte weiblicher Gefangener einsetzt und mit dem Colectivo Abolicionista Contra el Castigo gegen Strafkulturen kämpft und über Einstellungen zur Strafe in Gesellschaften, Justiz, Medien, Bildung und Politik forscht; und die französische Aktivistin Sylvie Jan, Vorsitzende des Freundschaftsvereins Frankreich-Kurdistan, der als Reaktion auf den 2013 vom türkischen Staat in Paris verübten Dreifachmord an den kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez gegründet wurde. Weitere Ziele der im Europarat mit einigen EU-Abgeordneten sowie Funktionstragenden verschiedener Gremien geführten Gespräche seien gewesen, die „Bedeutung des Paradigmas“ von Abdullah Öcalan für Frauen weltweit und ihre Befreiungsprozesse zu fokussieren und die Aufmerksamkeit auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen an politischen Gefangenen zu richten. Hier wurde insbesondere die Situation von Frauen thematisiert, die sich mit den Ideen Öcalans identifizieren.
Das verweigerte „Recht auf Hoffnung”
Die Delegation kam nach eigener Aukunft mit Mitgliedern der Kommission für Rechtsfragen und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sowie dem Ausschuss für die Einhaltung der von den Mitgliedstaaten des Europarates eingegangenen Verpflichtungen (auch „Monitoring-Ausschuss” genannt) zusammen. Bei den Gesprächen seien die Beteiligten eindringlich auf die Totalisolation auf Imrali sowie an die europäische Rechtsprechung zu Öcalan und weiteren Gefangenen, denen es ähnlich ergeht, erinnert worden. Im Speziellen ging es dabei um das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 18. März 2014. Darin stellte das Gericht fest, dass die Türkei mit der Verhängung einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe gegen Öcalan gegen das Verbot einer unmenschlichen und erniedrigen Behandlung und damit gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen hat. Öcalan, der 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gründete, war im Juni 1999, nur vier Monate nach seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia in die Türkei, wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilt worden. Da die Türkei 2002 die Todesstrafe abgeschafft hat, muss Öcalan nun eine „verschärfte“ lebenslange Freiheitsstrafe absitzen, ohne jegliche Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Laut dem EGMR müssen lebenslänglich Verurteilte aber zumindest die Hoffnung auf eine vorzeitige Haftentlassung haben. Konkret bedeutet das: Die Strafe muss reduzierbar sein und einer Nachprüfung unterzogen werden können. Dies ist aber weder bei Öcalan noch bei den Gefangenen aus der sogenannten Gurban-Gruppe, die ebenfalls bis zum Tod im Gefängnis bleiben sollen und dagegen erfolgreich in Straßburg geklagt hatten, nicht der Fall. Zwar kann der türkische Präsident bei hohem Alter oder Krankheit eines Gefangenen eine vorzeitige Entlassung veranlassen. Auch das türkische Parlament verabschiedet hin und wieder Amnestien. Dies reicht jedoch nicht aus, damit „Lebenslängliche“ konkrete Aussicht auf eine vorzeitige Haftentlassung haben, stellte der EGMR fest.
Kaum Konsequenzen, es bleibt bei Drohungen
In der Praxis ist es in der Türkei nach wie vor so, dass Personen, die zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, kein Mechanismus zur Verfügung steht, der eine nochmalige Überprüfung ihrer Strafe nach Verbüßung einer Mindesthaftzeit gestatten würde – und zwar dahingehend, ob (noch) legitime Gründe für die Aufrechterhaltung der Haft bestehen. Im Fall der Gurban-Gruppe hatte der EGMR zwar angeordnet, dass die türkische Regierung ein Haftkontrollsystem einzurichten hat, durch das geprüft wird, ob ein Verbleib in Haft nach wie vor gerechtfertigt werden kann. Dafür müsste allerdings eine politische Kraft existieren, die eine Grundlage dafür schafft. Aufgrund ihrer Weigerung, diesen Kontrollmechanismus einzuführen und so den „Lebenslänglichen“ das Recht auf Hoffnung einzuräumen, hatte das Ministerkomitee die Türkei aufgefordert, bis September 2021 „unverzüglich die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um den derzeitigen Rechtsrahmen in Einklang mit den vom EGMR festgelegten Standards zu bringen“. Das Palastregime von Erdogan aber ließ die Frist verstreichen – die lebenslange Haft ohne Aussicht auf Entlassung wurde nicht abgeschafft. Die angedrohte Konsequenz – der Ausschluss aus dem Europarat – wurde nicht durchgeführt. Ende 2021 gab es ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ankara wegen der unrechtmäßigen Inhaftierung Osman Kavalas. Dies hielt die türkische Justiz aber nicht davon ab, den Kulturförderer zu einer erschwerten lebenslangen Haft, die nach gültiger Rechtsprechung bis zum physischen Tod dauert, zu verurteilen. Auch die Geldstrafe des EGMR für die Türkei im vergangenen Juli im Fall Kavala führte nicht zu seiner Entlassung.
Großes Bedauern bei Delegation
Entsprechend fiel das Fazit der Frauendelegation eher ernüchternd aus. Zwar hätten sich einige Mitglieder des Europarats verpflichtet, dies in ihren nächsten Berichten hervorzuheben, erklären Chouman, Restrepo und Jan, und begrüßen dieses Engagement zugunsten der Verteidigung der Menschenrechte. Aus der Gesamtperspektive betrachtet müssten sie jedoch großes Bedauern darüber äußern, dass es den europäischen Institutionen trotz spezieller Mechanismen und Verfahren in der Praxis nicht gelinge, zur Veränderung der türkischen Menschenrechtssituation beizutragen und die völlige Missachtung von Grundrechten für Ankara nahezu folgenlos bleibe. Die Delegation betont die Notwendigkeit, dass der gesellschaftliche, politische und mediale Druck auf die Abgeordneten des EU-Parlaments steigen müsse, „damit ein Verständnis für die kurdische Frage geschaffen wird und konkrete und wirksame Handlungen umgesetzt werden, damit die Türkei die Missachtung der Menschenrechte beendet, verbindliche Urteile des EGMR umsetzt und Entscheidungen des Antifolterkomitees CPT repektiert”. Sie fordet den europäischen Antifolterausschuss, der ein Gespräch mit der Delegation wohl verweigert hat, auf, Informationen über den Gesundheitszustand von Abdullah Öcalan preiszugeben und Zwangsmaßnahmen zur Abschaffung der Isolationshaft auf Imrali einzuleiten.