Manipuliertes Gutachten? Anwaltskammer erstattet Anzeige
Im kurdischen Landkreis Pasûr (tr. Kulp) in der Provinz Amed (Diyarbakır) regt sich Protest gegen ein geplantes Großprojekt zur Energiegewinnung: Auf einer gemeinschaftlich genutzten Weidefläche soll ein 25 Hektar großer Solarpark entstehen. Bewohner:innen angrenzender Dörfer und Umweltaktivist:innen werfen dem Betreiber vor, durch ein manipuliertes Umweltverträglichkeitsgutachten (ÇED) das Vorhaben rechtswidrig durchgesetzt zu haben. Sie fordern die sofortige Rücknahme der Genehmigung.
Streit um Nutzung von Gemeindeland
Konkret betrifft das Projekt eine Weidefläche, die von den Dörfern Cixsê (Ağaçlı), Xurûc (Kaynak) und Tiyaxs (Narlıca) gemeinschaftlich genutzt wird. Die Firma „VBZ İnşaat“ plant, dort eine Anlage mit rund 30.900 Photovoltaikmodulen sowie einem 17 MWh starken Lithium-Ionen-Speicher zu errichten.
Kritik entzündet sich daran, dass es sich bei der Fläche laut offiziellen Angaben um „brachliegendes Land“ handeln soll. Nach Angaben von Anwohner:innen und der Rechtsanwaltskammer Diyarbakır handelt es sich jedoch um aktives Weideland – eine entscheidende Differenz, da Nutzflächen besonderen gesetzlichen Schutz genießen.
Manipuliertes Gutachten? Kammer erstattet Anzeige
Laut der Umwelt- und Stadtentwicklungskommission der Anwaltskammer wurde in der ÇED-Dokumentation nicht die tatsächliche Fläche abgebildet. Stattdessen seien Fotos einer anderen, ungenutzten Fläche eingefügt worden, um eine positive Umweltbewertung zu erhalten. Rechtsanwältin Berfin Kılınç, Mitglied der Kommission, erklärte, dass gegen diese mutmaßliche Irreführung bereits Strafanzeige gestellt wurde. Parallel wurde vor der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Diyarbakır eine Klage zur Aufhebung der Projektgenehmigung eingereicht.
„Diese Weiden sind die Lebensgrundlage der Menschen vor Ort“, so Kılınç. „Ein Projekt dieser Größenordnung würde die traditionelle Viehwirtschaft massiv gefährden. Der Abstand zur Wohnbebauung beträgt lediglich 48 Meter – das ist auch unter rechtlichen Gesichtspunkten äußerst problematisch.“
Betroffene warnen vor Verdrängung und Umweltzerstörung
Auch vor Ort formiert sich der Widerstand. Bei einer Protestaktion betonten Bewohner:innen der betroffenen Dörfer am gestrigen Montag, dass sie um ihre wirtschaftliche Existenz und kulturelle Verwurzelung fürchten.
Die Agraringenieurin Şermin Şeker (30) aus Cixsê erklärte: „Dieses Land ist nicht nur Boden, es ist unsere Geschichte, unsere Identität. Mit dem Bau des Solarkraftwerks verlieren wir nicht nur unsere Weiden, sondern auch die Lebensgrundlage unserer Tiere – und damit auch unsere.“
Die Anlage würde Hitzeinseln erzeugen, das Mikroklima verändern und langfristig die Bewohnbarkeit der Region beeinträchtigen, so die Einschätzung einiger Bewohner:innen. Die Kritik an der zunehmenden Industrialisierung ländlicher Räume sei dabei kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Problems: Die Umnutzung ländlicher Flächen zugunsten wirtschaftlicher Interessen ohne ausreichende Mitsprache der betroffenen Bevölkerung.
„Wir lassen uns nicht vertreiben“
Besonders eindrücklich schilderte die 70-jährige Hatun Demirhan ihre Sorge: „Wir sind keine Stadtmenschen. Dieses Land ist unser Zuhause, unser Auskommen, unsere Luft zum Atmen. Die Unternehmen kommen hierher, ohne unsere Stimme zu hören – und wollen uns vertreiben. Aber wir werden nicht weichen.“
Auch die 75-jährige Nuriye Şeker äußerte sich entschlossen: „Wenn das Projekt kommt, stirbt alles hier – Mensch, Tier, Natur. Ich werde mich dem bis zu meinem letzten Atemzug widersetzen.“
Rechtsstreit läuft – Projekt vorerst nicht gestoppt
Trotz der laufenden Klage und der öffentlichen Kritik hat das Ministerium für Umwelt, Stadtplanung und Klimawandel dem Projekt bereits eine positive Umweltverträglichkeitserklärung ausgestellt. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts steht noch aus. Bis dahin ruht die Hoffnung der Bevölkerung auf der Justiz – und auf dem zunehmenden öffentlichen Interesse an dem Fall.
Was ist ein „ÇED“?
Das türkische Verfahren der „Çevresel Etki Değerlendirmesi“ (ÇED) entspricht einer Umweltverträglichkeitsprüfung. Nur bei positivem Bescheid („ÇED olumlu“) dürfen Großprojekte wie Industrieanlagen, Bergbau oder Solarparks umgesetzt werden. Bei Fehlangaben oder Falschaussagen im Gutachten drohen jedoch straf- und verwaltungsrechtliche Konsequenzen.