Im Schatten der Corona-Pandemie wurde im Mai im Zîlan-Tal in Erdîş (türk. Erciş) der Bau von vier Wasserkraftanlagen wiederaufgenommen - trotz eines gerichtlich beschlossenen Baustopps. Sollten die Kraftwerke in Geliyê Zîlan tatsächlich fertiggestellt werden, würden unzählige Massengräber mit den Überresten tausender Menschen, die 1930 beim Zîlan-Massaker getötet wurden, in Stauseen verschwinden. Darüber hinaus wären auch die sozialen und ökologischen Folgen des Zerstörungswahns der AKP katastrophal: Mehr als 80 Prozent der Flüsse Nordkurdistans sind heute bereits aufgestaut oder ausgetrocknet, fast alle Feuchtgebiete vernichtet und der Grundwasserspiegel in den meisten Gebieten um hunderte Meter gefallen. Über eine halbe Million Menschen wurden nach offiziellen Angaben durch diese Staudammprojekte vertrieben, wobei Akteur*innen der Ökologiebewegungen von Millionen Vertriebenen ausgehen. Dennoch nehmen die zerstörerischen Bauprojekte der Regierung kein Ende.
Um gegen die Zerstörung im Zîlan-Tal zu protestieren, veranstaltete der Jugendrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der nordkurdischen Provinz Wan, zu der Erdîş gehört, eine Fahrradtour. Die Aktion, die unter dem Motto „Jugend aktiv gegen ökologische Plünderungen“ stand, startete am Samstag früh vor dem Parteigebäude der HDP in Erdîş und führte bis zur Zîlan-Schlucht. Unter den Teilnehmenden der Aktion waren neben vielen Aktivistinnen und Aktivisten des Jugendrats auch die Abgeordnete für Wan, Muazzez Orhan Işık.
Seit 2010 in Planung
Die Wasserkraftanlagen im Dorf Germav (Ilica), durch das der Fluss Zîlan fließt, sind bereits seit 2010 in Planung. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung fand nicht statt, da sich das Provinzgouverneursamt und das Ministerium für Umwelt und Städtebau dagegen aussprachen. Daher existiert auch keine systematische Aufnahme des ökologischen Zustandes der Region, geschweige denn eine Analyse der zu erwartenden Veränderungen des Ökosystems.
Das Genehmigungsverfahren für die Kraftwerke endete 2012, mit dem Bau der Anlagen wurde zwei Jahre später begonnen. Nach heftigen Protesten der Menschen aus dem Tal sowie lokalen und internationalen NGOs und einer Reihe von Klagen gegen das Vorhaben beschloss der Oberste Gerichtshof in Ankara einen Baustopp. Doch obwohl das Gericht bestimmte, dass die geplanten Wasserkraftanlagen am Zîlan den türkischen Umweltgesetzen widersprechen, wurden die Bauarbeiten im Schatten der Corona-Pandemie ungestört wiederaufgenommen. Nach dem Massaker an den Menschen im Zîlan-Tal droht fast ein Jahrhundert später ein weiteres: diesmal an seiner Natur, das die Spuren des Genozids aus dem sozialen Gedächtnis auslöschen soll.
AKP - Feind der Natur
„Wir haben es mit einer Diktatur zu tun, die im Wahn die gesamte Geografie Kurdistans zerstört“, sagte die Jugendratssprecherin Sinem Çetin zum Abschluss der Fahrradtour. Es handele sich um eine Regierung, die sich zum Ziel gesetzt habe, die Geschichte, Kultur und Existenz des kurdischen Volkes „auszulöschen“. Mindestens 15.000 Menschen - Zeitzeugen gehen sogar von bis zu 55.000 aus, liegen hier im Zîlan-Tal begraben, fuhr Çetin fort. „Doch diese Toten reichen der Regierung nicht. Dem Genozid soll ein ökologisches Massaker folgen. Diese Mentalität, die im Krieg mit der Natur ist, beutete auch bereits Hasankeyf und das Ida-Gebirge aus, um die Taschen ihrer regierungstreuen Bauherren zu füllen“, sagte Çetin.
Plünderungsfeldzügen der Regierung Einhalt gebieten
Die Aktivistin wies auch auf andere Zerstörungsprojekte der AKP hin, darunter in Dersim, wo die Regierung bei Pilûr (Ovacık) die Quellen des für Aleviten heiligen Munzur sperren und profitorientiert umgestalten will, und in der Cûdî-Region sowie am Gabar in Şirnex, wo regelmäßig Waldbrände von der türkischen Armee entzündet werden. „Wir als HDP-Jugendrat befinden uns heute hier, um den Plünderungsfeldzügen der Regierungskoalition aus AKP und MHP Einhalt zu gebieten. Wir müssen uns gemeinsam organisieren, damit der naturfeindlichen Politik dieser Regierung ein Ende gesetzt wird. Wenn wir wollen, dass sich unsere Zukunft in gesellschaftlichem Frieden auf den grünen Plätzen der Welt abspielt, müssen wir den Kampf schon jetzt gewinnen“, forderte Sinem Çetin.