Ehepaar versorgt angeschossene Bergziege

Viele Tierarten werden in Dersim durch die illegale Jagd an den Rand der Ausrottung gebracht. Das Ehepaar Saniye und Cemal Oktay päppelt seit einiger Zeit eine verletzte Bergziege auf, die von Wilderern angeschossen wurde.

Obwohl die Bergziege in der nordkurdischen Provinz Dersim vom Aussterben bedroht ist und unter Artenschutz steht, wird sie durch die illegale Jagd an den Rand der Ausrottung gebracht. Die Provinz gehört zu den waldreichsten Regionen in Kurdistan. Hier befindet sich eine der reichhaltigsten Ansammlungen seltener Tier- und Pflanzenarten des Nahen und Mittleren Ostens, unter anderem Wildkatzen, Eurasische Luchse, Gämse, Steinböcke, Braunbären, Wölfe, Adler, Zedern und Walloneneichen. Der türkische Staat jedoch lässt die Wälder Nordkurdistans - insbesondere in Dersim - seit Jahren jeden Sommer systematisch niederbrennen. Das ist Teil der seit der Staatsgründung 1923 in Kurdistan gültigen Aufstandsbekämpfung und Vertreibungspolitik. Die politisch motivierte Arten- und Naturvernichtung des türkischen Staates wird durch die Jagd von Trophäenjägern maßgeblich unterstützt und stellt zunehmend eine Bedrohung für die Artenvielfalt dar.

Eine Bergziege, die in Dersim ins Visier der Gewehre von Wilderern geriet, konnte von Saniye und Cemal Oktay gerettet werden. Das Ehepaar hatte im Landkreis Mêzgir (Mazgirt) seine Tierherde gerade zur Weide geführt, als es die verletzte Ziege fand. Da sich das Tier aufgrund der Schussverletzung am Hinterbein nicht aufrichten konnte, musste es ins Dorf getragen werden. Nach Gesprächen mit der örtlichen Behörde des Umweltministeriums rückte ein Team vom tiermedizinischen Versorgungsdienst aus und leistete im Dorf der Oktays erste Hilfe. Um die Bergziege nicht völlig aus ihrem natürlichen Lebensraum zu isolieren, haben Saniye und Cemal Oktay die weitere Behandlung des Tieres übernommen. Seit rund vier Wochen wird die Bergziege liebevoll im Stall aufgepäppelt. Nach erfolgreicher Behandlung wird sie wieder in die Freiheit entlassen.

Kräuter aus dem Gebirge

Um die artgerechte Nahrung kümmern sich die Eheleute gemeinsam und sammeln täglich frische Gräser, Kräuter und anderes Pflanzenmaterial im Gebirge. Der Ziege gehe es mittlerweile schon deutlich besser, nach kurzen Spaziergängen gehe sie aber wieder in den Stall zu den anderen Tieren zurück.

Bergziegen im alevitischen Glauben heilig

Dersim ist die Region mit dem höchsten Anteil an Personen alevitischen Glaubens. Das Alevitentum ist ein Glaube an eine natürliche Gesellschaft, wonach die Beziehungen zwischen sämtlichen Lebewesen auf gegenseitiger Anerkennung fußen, auf der Grundlage einer kommunalen, solidarischen und teilenden Gesellschaft. Alle Völker sind unabhängig von ihrer Ethnie und ihrer Religion gleichwertig. Lebewesen, also Menschen, Tiere und Pflanzen gelten als heilig. Die Bergziegen genießen einen besonderen Status im Alevitentum, da sie als Herdentiere des Propheten Xizir (Hızır) verehrt werden. Der alevitischen Glaubenslehre nach lebten die Brüder Xizir und Ilyas als Propheten und tranken das „Wasser der Unsterblichkeit“, um Bedürftigen zur Hilfe zu eilen. Xizir kommt dem Glauben zufolge den Hilfsbedürftigen zu Lande zur Hilfe, Ilyas hingegen denen zur See.

Härtere Strafen und generelles Jagdverbot

Cemal Oktay fordert härtere Strafen gegen die illegale Jagd von Tieren und ein generelles Jagdverbot in der Region. Bergziegen sind zur kalten Jahreszeit erstaunlich widerstandsfähig gegen Schnee und Frost. Solange die Wilderei aber weitergeht, wird diese Art in Dersim vermutlich aussterben, und das schon bald.