Die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan ist in der ersten Jahreshälfte 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum rapide angestiegen und droht, ein Rekordniveau zu erreichen. Mit dem Abzug der internationalen Truppen im Mai und der beginnenden Taliban-Offensive korreliert ein deutlicher Anstieg der Opfer. In einem am Montag veröffentlichten Bericht warnt die UN-Mission in Afghanistan (UNAMA), das Land sei ohne eine deutliche Deeskalation der Gewalt „auf dem besten Weg“, 2021 die höchste Zahl an dokumentierten zivilen Opfern in einem einzigen Jahr seit Beginn der UNAMA-Aufzeichnungen zu erleben.
5.183 zivile Opfer in sechs Monaten
Im UNAMA-Halbjahresbericht für die ersten sechs Monate des Jahrs 2021 ist von 5.183 zivilen Opfern (1.659 Getötete und 3.254 Verletzte) die Rede. Das macht einen Anstieg um 47 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020 aus. Die reale Zahl der zivilen Opfer dürfte weit höher liegen, da Kämpfe und Exekutionen häufig in ländlichen, schwer erreichbaren Gebieten stattfinden.
Rapider Anstieg ab Mai
Äußerst besorgniserregend ist der akute Anstieg der Zahl der getöteten und verletzten Zivilist:innen in der Zeit ab dem 1. Mai. Im Zeitraum Mai–Juni waren fast so viele zivile Opfer zu beklagen wie in den gesamten vorangegangenen vier Monaten. Die Zahl der zivilen Opfer im Mai und Juni – insgesamt 2.392 (783 Tote und 1.609 Verletzte) – war die höchste für diese Monate, seit UNAMA 2009 mit der systematischen Dokumentation begann. Im Zeitraum Januar–April 2021 hatte es demgegenüber 2.791 zivile Opfer (876 Tote und 1.915 Verletzte) gegeben.
„Nie dagewesene Zahl ziviler Opfer droht“
„Ich fordere die Taliban und die afghanische Führung auf, die düstere und beängstigende Entwicklung des Konflikts und seine verheerenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung zur Kenntnis zu nehmen. Der Bericht ist eine klare Warnung, dass eine noch nie dagewesene Anzahl afghanischer Zivilisten in diesem Jahr umkommen und verstümmelt werden wird, wenn die zunehmende Gewalt nicht eingedämmt wird", so Deborah Lyons, Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für Afghanistan.
Ein Großteil der Kampfhandlungen in den tödlichsten Monaten Mai und Juni fand außerhalb von Städten statt, in Gebieten mit vergleichsweise geringer Bevölkerungszahl. Die Vereinten Nationen äußern ihre „ernste Besorgnis“, dass bei intensiven Militäraktionen in städtischen Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte die Folgen für die afghanische Zivilbevölkerung katastrophal sein könnten.
Frauen, Jungen und Mädchen machen fast die Hälfte der Opfer aus
Die UN weisen darauf hin, dass Frauen, Jungen und Mädchen fast die Hälfte aller zivilen Opfer in der ersten Hälfte des Jahres 2021 ausmachten. Von den 46 Prozent aller zivilen Opfer waren 32 Prozent Kinder – insgesamt 1.682 (468 Tote und 1.214 Verletzte) und 14 Prozent Frauen – insgesamt 727 (219 Tote und 508 Verletzte). Im UN-Bericht heißt es: „Es ist erschütternd berichten zu müssen, dass mehr Frauen und mehr Kinder getötet und verletzt wurden, als jemals zuvor von der UNAMA für die erste Hälfte eines Kalenderjahres erfasst wurden.“
IS, Taliban und Regierung morden
Sogenannte Antiregierungselemente waren dem UNAMA-Bericht zufolge für 64 Prozent der gesamten zivilen Opfer verantwortlich: 39 Prozent durch Taliban, fast neun Prozent durch den Islamischen Staat - Provinz Chorasan (ISIL-KP) und 16 Prozent sind keiner Gruppe zuordbar. Pro-Regierungskräfte waren für 25 Prozent der zivilen Verluste verantwortlich: 23 Prozent durch nationale afghanische Sicherheitskräfte und zwei Prozent durch regierungsnahe bewaffnete Gruppen.
Bundesregierung hält an Abschiebungen fest
Trotz der Eskalation des Krieges ist die Bundesregierung entschlossen, Sammelabschiebungen nach Afghanistan fortzusetzen. Während die Taliban eine Provinz nach der anderen einnehmen, versucht die Bundesregierung, Abschiebungen nach Afghanistan durch angeblich „sichere Gebiete“ zu legitimieren. Trotz der Bitte Kabuls, aufgrund der Sicherheitslage im Land Abschiebungen für drei Monate auszusetzen, kommt die Bundesregierung der Bitte nicht nach. Regierungssprecher Steffen Seibert hatte noch im Juli deutlich gemacht, dass die Bundesregierung keinen Grund sehe, die Abschiebepraxis zu ändern.