Libysche Justiz gegen neoosmanischen Expansionismus

Ein Berufungsgericht in Libyen hat die Übertragung der Förderrechte von Öl und Gas in libyschen Hoheitsgewässern verboten. Damit erhält das neoosmanische Projekt einen weiteren Schlag.

Im Oktober 2022 hat die libysche Regierung ein „Memorandum of Understanding“ als Ergänzung zum 2019 geschlossenen Seegrenzabkommen zwischen Libyen und der Türkei beschlossen. In diesem Text wurde der Türkei das Recht eingeräumt, in libyschen Hoheitsgewässern nach Öl und Gas zu suchen und zu fördern.

Die Aktualisierung des Abkommens im Oktober hatte zu einem großen Aufschrei in Libyen und zu Protesten und einer Klage von fünf Anwälten geführt, der vergangene Woche stattgegeben worden ist. Das Berufungsgericht in Tripolis untersagt türkischen Unternehmen Suche und Förderung von Öl und Gas in libyschen Hoheitsgewässern. Dem Urteil zufolge ist die Regierung von Premierminister Abdulhamid Dabaiba nicht befugt, internationale Abkommen zu schließen. Es stellt fest, dass das mit der Türkei unterzeichnete Dokument „als Absichtserklärung bezeichnet wurde, es sich jedoch um ein sehr umfassendes Ölabkommen handelt“. Den Klägern zufolge verstößt das Abkommen gegen verschiedene Bestimmungen des Erdölgesetzes, insbesondere gegen die mangelnde Erfahrung der türkischen Unternehmen in diesem Bereich. Darüber hinaus beanstanden die Anwälte auch die in der Vereinbarung enthaltene Vertraulichkeitsklausel über die spätere Zusammenarbeit, die einen Verstoß gegen das Gesetz des Rechnungsprüfungsamtes darstellen würde.

Seegrenzabkommen – Kernstück neoosmanischen Imperialismus

Das Seegrenzabkommen 2019 stellte ein Kernstück des türkischen Expansionismus im Mittelmeerraum dar. Mit einer hanebüchenen Argumentation, der „Festlandsockel“ der Türkei reiche bis direkt an Kreta heran, das über keinen Sockel verfüge, beanspruchte die Türkei einen großen Teil des östlichen Mittelmeerraums. Libyen unterstützte dieses Abkommen zur Schaffung einer gemeinsamen Wirtschaftszone aus mehreren Gründen. Die damalige Regierung von Fayez al-Serraj stand der Muslimbruderschaft nahe. Die Muslimbruderschaft gilt als die fünfte Kolonne der Türkei. Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Libyen war das Muslimbruderregime nur durch ein massives Eingreifen der Türkei zu halten. So entsandte das Erdoğan-Regime unzählige Dschihadisten aus Syrien nach Libyen, um dort zu kämpfen. Gleichzeitig schickte der türkische Staat Drohnen, um dem Muslimbruder-Regime den Hals zu retten.

Türkei entzieht sich dem Seerecht

Von einem freiwilligen bilateralen Abkommen kann also keine Rede sein. Gleichzeitig verletzt das Seegrenzabkommen das internationale Seerecht, da es ägyptische, griechische und zypriotische Gewässer de facto annektiert. Das tut die Türkei ungestraft, da sie nicht dem internationalen Seerechtsabkommen beigetreten ist und so auch nicht vor dem internationalen Seegerichtshof verurteilt werden kann. Das Abkommen wird insofern auch nicht anerkannt. Die EU hatte damals erklärt: „Das Memorandum verletzt die Hoheitsrechte von Drittstaaten und steht nicht im Einklang mit dem internationalen Seerecht. Es kann keinerlei Rechtsfolgen für Drittstaaten haben.“

Libyen als türkisches Protektorat

Doch Libyen ist in großen Teilen weiterhin ein türkisches Protektorat. Die Türkei wird als Sicherheit gegen General Haftar betrachtet und damit als Garantin der Aufrechterhaltung der Regierung in Westlibyen. Doch während die Herrschenden in Libyen das so sehen mögen, wächst der Druck auf der Straße. Intellektuelle und Medien warnen schon lange vor einem Ausverkauf Libyens an die Türkei. Mit dem „Memorandum of Understanding“ wurden im Oktober die Explorationsrechte im libyschen Hoheitsgebiet auf die Türkei übertragen. Das brachte die öffentliche Stimmung offenbar zum Kippen. Es ist möglich, dass die westlibysche Regierung unter Abdul Hamid Dabaiba gegen das Gerichtsurteil vom letzten Montag vorgeht, doch das ist nicht unbedingt klar. Denn die Regierung hat streng genommen keine Regierungsbefugnis mehr, da im Dezember 2021 bereits Neuwahlen hätten erfolgen müssen, die jedoch immer wieder verschoben wurden.

Abkehr vom türkischen Imperialismus zeichnet sich ab

Gleichzeitig scheint sich auch auf Regierungsebene eine leichte Abwendung vom türkischen Imperialismus abzuzeichnen. So deutete der libysche Minister für Öl und Gas, Mohamed Oun, am Freitag an, Libyen sei bereit, mit Ägypten und anderen Anrainerstaaten über die maritimen Grenzen zu sprechen oder auch eine Lösung über den internationalen Gerichtshof zu suchen. Das konterkariert direkt türkische Interessen. Was dahinter steht, zeigt sich in den häufigen Appellen des Ministers an US- und EU-Unternehmen, nach Libyen zurückzukehren. Dem steht jedoch möglicherweise auch die massive russische Truppenpräsenz im Osten Libyens im Wege. Das Urteil des Berufungsgerichts stellt in jedem Fall einen schweren Schlag für den türkischen Expansionismus im Mittelmeerraum dar.

Titelbild: Das türkische Forschungsschiff „Oruç Reis“ wird im Mittelmeer begleitet von türkischen Kriegsschiffen