Während in der Türkei über eine „neue Zivilverfassung“ diskutiert wird, bleiben zentrale gesellschaftliche Konfliktlinien – insbesondere die kurdische Frage – außen vor. Die politische Opposition ringt um Neupositionierung, das autoritäre Regime konsolidiert sich weiter, und gleichzeitig eröffnen sich neue Räume für strategische Allianzen. Im Interview mit ANF beleuchtet Ertuğrul Kürkçü, sozialistischer Aktivist, Journalist, Verleger, Schriftsteller und Ehrenvorsitzender der HDP, vier zentrale Themenkomplexe: die sicherheitspolitische Rahmung des Konflikts, die Funktion parlamentarischer Kommissionen, die Rolle von Abdullah Öcalans Vorschlag nach einem neuen „Gesellschaftsvertrag“, sowie die strategischen Optionen für linke, demokratische und kurdische Kräfte.
Die PKK hat auf ihrem jüngsten Kongress beschlossen, die Waffen ruhen zu lassen, und damit weitreichende Entscheidungen getroffen, die den Weg für einen politischen Lösungsprozess ebnen könnten. Die staatliche Seite hingegen verzichtet darauf, flankierende Mechanismen zu implementieren, die diesen Prozess untermauern würden, und präsentiert das Thema stattdessen primär unter dem Slogan einer „terrorfreien Türkei“ der Öffentlichkeit. Bedeutet dieses Vorgehen nicht, dass die Perspektive einer umfassenden Lösung in einen engen sicherheitspolitischen Rahmen gedrängt wird?
Unzweifelhaft – genau das ist der Fall. Die Regierung verfolgt einen Prozess, der darauf abzielt, den Status quo mit möglichst geringem, verzögertem und minimalem Wandel zu erhalten. Schritte, die innerhalb einer Stunde unternommen werden könnten, werden auf einen Zeitraum von einem Monat ausgedehnt. Das Regime agiert mit spürbarer Trägheit. Auch wenn sich Erdoğan und Bahçeli am Ende auf eine gemeinsame Linie verständigen, ist ersichtlich, dass sie von unterschiedlichen Prämissen ausgehen.
Während Bahçeli die Phase der Gewaltlosigkeit als ein Moment im Aufbau eines korporatistischen Staatsmodells begreift, liegt Erdoğans zentrales Interesse nicht in einer demokratischen oder politischen Lösung der kurdischen Frage. Vielmehr fokussiert er sich auf die Bewahrung der Macht in Form eines dynastischen Herrschaftsmodells, dessen Zentrum ein militärisch-industrieller Komplex bildet. Daher hängt für Erdoğan jeder potenzielle Schritt in der kurdischen Frage primär davon ab, ob dieser Schritt Stimmenzuwächse verspricht oder einen Rückgang der gesellschaftlichen Unterstützung des Regimes abzufedern vermag.
Machterhalt als Leitmotiv
Diese Haltung hat in der Vergangenheit bereits durch die Strategie der „Verweigerung von Lösungen“ Resultate erzielt. Zwar konnte die PKK mit dem „Zersetzungsplan“ („Çöktürme Planı“, sinngemäß „In die Knie zwingen“, Anm. d. Red.) nicht entscheidend besiegt werden, doch die auf dieser Offensive basierende sicherheitspolitische Strategie hat es Erdoğan ermöglicht, seine Machtstellung zu festigen – eine Erfahrung, aus der das Regime erheblichen politischen Nutzen gezogen hat. Von diesem tief verwurzelten Machterhaltungsmechanismus werden sich die Herrschenden kaum lösen.
Hinzu kommt, dass sämtliche politischen Simulationsszenarien zeigen: Die MHP, die im bisherigen „Öffnungsprozess“ die Hauptlast gegenüber der nationalistischen Wählerschaft getragen hat, wird bis zu den nächsten Wahlen weiter an Zustimmung verlieren. Selbst wenn die AKP durch ihre aggressive Auseinandersetzung mit der CHP ein paar Prozentpunkte zurückgewinnen sollte, bleibt der Rückgang der MHP unaufhaltsam. Alle Szenarien deuten darauf hin, dass die „Volksallianz“ – sofern kein politisches Wunder geschieht – weder die für eine Verfassungsänderung erforderlichen 360 noch 400 Mandate erreichen noch aus dieser Öffnungsstrategie eine neue Dynamik zur Machtsicherung entwickeln kann.
Deshalb werden künftig alle politischen Schritte verstärkt einer Prüfung unterzogen, ob sie der Machterhaltung dienen. Die Rhetorik einer „terrorfreien“ Türkei ist bereits Ausdruck der vorweggenommenen Akzeptanz dieses eingeschränkten Deutungsrahmens.
Wie alle Formeln, die ihre Legitimität nicht aus der Zukunft, sondern aus der Vergangenheit schöpfen, erhält auch dieses Narrativ seine Bedeutung nicht aus den Rechten der Kurd:innen, sondern aus dem Versuch hegemonialer Kontrolle. Seine Wirkmächtigkeit hängt letztlich davon ab, ob es Erdoğan und seiner Familie gelingt, aus der „Zersetzungsoffensive“ eine allgemeine gesellschaftliche Zustimmung für einen autoritären Machterhalt auf Dauer zu generieren – oder eben nicht.
Im Parlament wird derzeit die Einrichtung einer Kommission zur Steuerung des Lösungsprozesses diskutiert; sowohl der MHP-Vorsitzende Bahçeli als auch Parlamentspräsident Numan Kurtulmuş haben entsprechende Vorschläge unterbreitet. Sehen Sie in diesen Initiativen einen Ausdruck des politischen Willens zur Lösung oder vielmehr eine Strategie der Regierung, das Thema durch zeitliche Streckung zu kontrollieren?
Im institutionellen Gefüge des gegenwärtigen Regimes nimmt das Parlament eine untergeordnete Position gegenüber dem Präsidenten ein. Auch die unlängst vom Plenum verabschiedeten Gesetzesänderungen bestätigen, dass das Parlament weiterhin Befugnisse an den Präsidenten delegiert. Die Nationalversammlung ist somit faktisch weder verpflichtet noch befugt, einen politischen Lösungsprozess eigenständig zu steuern. Es sei daher in Erinnerung gerufen, dass das sogenannte Präsidialsystem im Wesentlichen eine Konstruktion darstellt, die darauf abzielt, die Exekutivgewalt vollständig im Präsidialamt zu konzentrieren.
Scheinpluralismus
Selbst wenn das Parlament letztlich auf symbolische Rhetorik beschränkt bleiben sollte, verfügen AKP und MHP über die notwendige einfache Mehrheit, um diese Rhetorik politisch zu gestalten. Bahçeli hat in seinem Vorschlag, unter der Leitung von Kurtulmuş eine „Kommission für eine terrorfreie Türkei des Neuen Jahrhunderts – Nationale Einheit und Solidarität“ einzurichten, festgelegt, dass deren Beschlüsse ebenfalls mit einfacher Mehrheit gefasst werden sollen. Zwar enthält der Vorschlag formale Elemente pluralistischer Repräsentation – wie die Beteiligung aller im Parlament vertretenen 16 Parteien, eine hundertköpfige Kommission, und das Recht jeder Partei, mindestens ein Mitglied zu stellen –, jedoch verhindert die Mehrheitslogik, dass die Kommission von der präsidialen Machtlogik abweichen oder sich als autonomes Gremium entfalten kann. Sie bleibt ein „Binnenparlament“, das gemäß den Vorgaben des Präsidialamts operiert.
Nichtsdestotrotz könnte die Arbeitsaufnahme einer solchen Kommission eine doppelte Funktion erfüllen: Einerseits bietet sie dem autoritären Lager – also AKP und MHP – die Gelegenheit, ihre sicherheitszentrierte, nationalistisch überhöhte und revanchistische Rhetorik zu intensivieren, während sie eine tatsächliche Lösung hinauszögern und fundamentale politische Reformen delegitimieren. Andererseits eröffnet sie den demokratischen, freiheitlich gesinnten und systemkritischen Kräften einen Raum, die Kommission als Plattform zu nutzen – nicht primär zur parlamentarischen Entscheidungsfindung, sondern als symbolisches Podium, das über die Mauern des Parlaments hinaus in die Gesellschaft hineinwirken und die autoritären Narrative delegitimieren kann.
Bahçelis Vorschlag zielt im Kern weniger auf eine tatsächliche Verhandlungslösung ab, sondern auf die Inszenierung eines politischen Schaulaufens. Diese Inszenierung soll insbesondere den nationalistischen Kräften innerhalb des Regimes signalisieren, dass das durch den Waffenverzicht der PKK entstandene politische Vakuum nicht durch die kurdische politische Vertretung gefüllt wird – es gibt für sie keinen Grund, sich als „Verlierer“ zu fühlen. Gleichzeitig dient diese Bühne dazu, eine symbolische Verdichtung zu erzeugen: Die politische Landschaft scheint sich um das Regime zu versammeln, wodurch ein Gefühl nationaler Einheit erzeugt und zugleich der politische Druck auf das Regime kanalisiert wird. Mit anderen Worten: Dieser Vorschlag ist nicht lediglich kosmetischer Natur, aber ebenso wenig intendiert er die Etablierung eines echten Verhandlungstisches zwischen Türk:innen und Kurd:innen.
Kann ein alternatives Diskursfeld entstehen?
Trotzdem kann insbesondere die DEM-Partei – in Kooperation mit weiteren demokratischen Kräften im Parlament – diese Kommission nutzen, um einen gesellschaftlich relevanten Dialog anzustoßen. Zentral ist dabei die Frage, ob es gelingt, Kommunikationskanäle über die Grenzen des Parlaments hinaus zu öffnen und jenseits der regierungsnahen und Mainstream-Medien ein alternatives Diskurs- und Handlungsfeld zu etablieren.
Sollte die Kommission tatsächlich eingerichtet werden, müsste sich die DEM-Partei darauf konzentrieren, nicht nur durch ihre Vertreter:innen in der Kommission zu wirken, sondern auch ihre gesamte Parlamentsfraktion und die regionalen Strukturen zu mobilisieren, um die Entwicklungen in einer eigenen Sprache und Narration in die Gesellschaft zu tragen und in den bestehenden sozialen und politischen Kämpfen zu verankern.
Empirische Studien und politische Erfahrung zeigen: Die entscheidenden Faktoren für das politische Verhalten der Bevölkerung sind vor allem wirtschaftliche Fragen – insbesondere Inflation, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Arbeitslosigkeit. Themen wie Sicherheit oder die kurdische Frage treten demgegenüber erst in zweiter Linie auf die politische Agenda.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum realistisch, innerhalb der engen Grenzen der von Bahçeli vorgeschlagenen „Kommission für nationale Einheit und Solidarität“ zu einer substantiellen Lösung des Konflikts zu gelangen. Dennoch kann die Existenz einer solchen Plattform – bei aller begründeten Skepsis – als besser eingeschätzt werden als ihr völliges Fehlen. Sie könnte sogar, anstatt die DEM-Partei zu isolieren, das Parlament selbst zwingen, sich auf einen gemeinsamen Diskursraum zuzubewegen – und so dem gesamten Prozess eine neue Dynamik verleihen.
Während die Debatte über eine neue Verfassung andauert, wird der von Abdullah Öcalan formulierte Aufruf zu einem neuen „Gesellschaftsvertrag“, der das Verhältnis zwischen Türk:innen und Kurd:innen neu definieren soll, weitgehend ignoriert. Kann eine „neue Verfassung“ tatsächlich als neu gelten, solange die kurdische Frage nicht auf verfassungsrechtlicher Ebene behandelt wird?
Aus meiner Sicht gibt es keinen nachvollziehbaren Grund für Vertreter:innen der Kurd:innen, Demokrat:innen, Sozialist:innen, unterdrückten Klassen oder Völker, angesichts der laufenden Verfassungsdebatte in Aufregung zu geraten. Innerhalb der aktuellen Kräfteverhältnisse und unter den gegebenen politischen Konstellationen – insbesondere mit Blick auf die hegemoniale Stellung der Regierungsparteien im Parlament und im Präsidialamt – ist eine Beteiligung dieser Akteure an der Ausarbeitung einer wahrhaft demokratischen Verfassung etwa so wahrscheinlich wie ein Vegetarismus beim Tiger.
Unglaubwürdige Selbstdarstellung
Jene, die offen erklären, Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht umsetzen zu wollen, und gleichzeitig eine aggressive „Übernahmeoffensive“ gegen die Stadtverwaltungen von Istanbul und anderen oppositionell geführten Kommunen betreiben, erscheinen wenig glaubwürdig, wenn sie als Befürworter einer Verfassung auftreten, die etwa Selbstverwaltungsrechte in kurdischen Siedlungsgebieten sichern soll.
Noch fundamentaler: In einem Parlament, das durch seine Geschäftsordnung zentrale Begriffe und historische Referenzen, die für eine demokratische Neudefinition des Staatsbürgerschaftsbegriffs unverzichtbar wären, explizit untersagt, ist eine ernsthafte Diskussion über eine neue, inklusive Verfassung kaum vorstellbar. Artikel 161, Absatz 3 des Parlamentsreglements verbietet es ausdrücklich, Aussagen zu tätigen, die als Beleidigung der „gemeinsamen Geschichte des türkischen Volkes“, der in den ersten vier Artikeln der Verfassung definierten Staatsordnung oder der territorialen Integrität der Republik Türkei gewertet werden könnten.
Diese Verbotslage schließt in der repressivsten Auslegung etwa die Interpretation aus, dass es sich beim türkischen Staat um ein autoritäres oder diktatorisches Regime handelt, dass im Zeitraum von 1915 bis 1918 ein Völkermord stattgefunden hat oder dass es zwischen 1921 und 1937 systematische Massaker an Kurd:innen gegeben hat. Selbst Überlegungen, die bestehende Verwaltungsstruktur der Türkei auf der Grundlage kollektiver Rechte zu reformieren, könnten als verfassungsfeindlich eingestuft werden. Unter solchen Bedingungen mutet es illusorisch an, von einer echten Verfassungsreform zu sprechen.
Natürlich ist es – sofern man die Konsequenzen in Kauf nimmt – möglich, all diese Themen auch heute am Rednerpult des Parlaments zu artikulieren. Und selbstverständlich sollten die demokratischen, revolutionären und sozialistischen Kräfte im Parlament Strategien entwickeln, um diese Beschränkungen zu durchbrechen und die parlamentarische Sprache zu befreien. Jedoch ist zu bedenken, dass viele der dringendsten gesellschaftlichen Anliegen – etwa rechtliche und institutionelle Verbesserungen in Bezug auf Meinungsfreiheit, kulturelle Rechte oder die Freilassung politischer Gefangener – keiner Verfassungsänderung bedürfen, sondern durch einfache Gesetze mit einfacher Mehrheit sofort umsetzbar wären. Diese konkreten Schritte würden einen tatsächlichen Dialog über die Zukunft der Türkei und Kurdistans ermöglichen.
Demokratie ist nicht das Ziel
Ein „ziviles“ Verfassungsprojekt, das diese kurzfristig realisierbaren Maßnahmen ignoriert und etwa nicht einmal eine Verbesserung der Haftbedingungen kranker Gefangener in Angriff nimmt, offenbart letztlich das wahre Ziel seiner Initiatoren: Es geht ihnen nicht um eine demokratische Neugründung, sondern um eine Anpassung der Verfassung an die Wahlstrategien des Präsidentenamtes.
Wenn wirklich der Wille besteht, eine zivile und demokratische Verfassung zu schaffen, dann muss der erste Schritt darin bestehen, die gegenüber dem Europarat eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen: Reformen zur Stärkung der Meinungs- und Organisationsfreiheit, Verbesserung der Haftbedingungen, Sicherung der kulturellen Rechte der Kurd:innen und die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
In diesem Kontext ist es wenig überraschend, dass sowohl Öcalans Konzept eines neuen „Gesellschaftsvertrags“ zur Lösung der kurdischen Frage als auch die seit der DEP-Zeit im Archiv des Parlaments liegenden Vorschläge zur Verfassungsänderung systematisch ignoriert werden. Gleichwohl – selbst wenn die geplante Kommission andere Absichten verfolgt – vertraue ich darauf, dass unsere gewählten Vertreter:innen sie nutzen werden, um die Anliegen der Völker mit einer Sprache und Begrifflichkeit in die Debatte einzubringen, die jenen entspricht, die sie gewählt haben. Der erste Schritt besteht darin, die Beschränkungen der Meinungsfreiheit zu durchbrechen und Raum für eine wahrhafte Diskussion zu schaffen.
Können die CHP und andere Oppositionsparteien im Rahmen der Verfassungsdebatte eine kraftvolle, demokratische Politik entfalten? Hat die Opposition im Hinblick auf die kurdische Frage die Grenzen des staatlich Zulässigen überschritten – oder ist sie dazu in der Lage? Und welche politische Strategie sollten unter den gegebenen Bedingungen demokratische, linke und auf Veränderung ausgerichtete Kräfte – insbesondere die DEM Partei und ihre Bündnispartner:innen – verfolgen?
Ich sehe, dass die CHP unter großem Druck eine äußerst schwierige Auseinandersetzung führt und diese mit bemerkenswerter Entschlossenheit bewältigt. Dieser Prozess verändert die Partei grundlegend – nicht nur auf der Ebene der Sprache und des Diskurses, sondern auch hinsichtlich Haltung, Auftreten und politischem Selbstverständnis. Seit dem Eingriff gegen die Istanbuler Stadtverwaltung am 19. März durchläuft die CHP einen tiefgreifenden Transformationsprozess, der keineswegs einseitig verläuft: Während die Mehrheit sich durch Widerstand festigt und bemüht ist, den Dialog mit anderen oppositionellen Sektoren aufrechtzuerhalten, gibt es auch jene, die eine Annäherung an das autoritäre Zentrum suchen oder gar die Fronten wechseln.
Ich erkenne jedoch, dass innerhalb der CHP ein neuer Impuls wächst – ein Impuls, der auf eine demokratische Neugründung der Republik zielt, welche die Rechte der Kurd:innen und Alevit:innen einschließt. Ich nehme zudem wahr, dass das kurdische Volk diesen Wandel mit Aufmerksamkeit und Interesse verfolgt. Ich glaube, dass viele CHP-Mitglieder, die heute in der Mitte Istanbuls staatlicher Repression ausgesetzt sind, ein neues Verständnis dafür entwickeln, was Kurd:innen in den letzten vier Jahrzehnten – abseits der öffentlichen Wahrnehmung – ohne Klage erdulden mussten. Jetzt ist die Zeit für Solidarität. Das, was man heute einigen antut, darf niemandem mehr angetan werden.
Widerständige Tradition als historisch gewachsene Chance
Natürlich wäre es illusorisch zu erwarten, dass sich eine politische Tradition, die auf beinahe ein Jahrhundert Geschichte, auf ideelle Erbschaften, gewohnte Praxis und institutionelle Reflexe zurückblickt, in kürzester Zeit grundlegend wandelt. Die gesellschaftlichen und demokratischen Kräfte in der Türkei und in Kurdistan sind nicht aus einer modernen sozialistischen oder sozialdemokratischen Tradition hervorgegangen. Die moderne türkische Staatsordnung fußt auf einer Tradition, in der der Staat alles ist und die Gesellschaft nichts. Doch während der Staat sich der Gesellschaft stets in autoritärer Gestalt näherte, brachte die Gesellschaft – vom Land in die Städte, aus den Slums in die Gewerkschaften und politischen Organisationen – die widerständige demokratische Tradition Anatoliens und Mesopotamiens mit sich, gespeist aus Jahrhunderten sozialer Kämpfe.
Die CHP durchläuft in diesem historischen Strom eine Metamorphose. Diese Veränderung speist sich von unten aus dem Erbe der anatolischen Aufstände und von oben aus den Erfahrungen globaler sozialer Kämpfe – verbunden mit dem konkreten menschlichen Material, das ihr zur Verfügung steht. Dieser Veränderung sollte eine Chance gegeben werden, denn die CHP steht vor einer existenziellen Herausforderung. Genauso wie das autoritäre Regime seine Jahrhunderte alte Kultur der Unterdrückung mit unverminderter Konsequenz fortführt, können die ihm gegenüberstehenden Kräfte nur dann bestehen, wenn sie auf das kollektive Wissen und die Erfahrung historischer wie gegenwärtiger Widerstandsbewegungen – lokal wie global – zurückgreifen. Diese Aufgabe müssen sie selbst übernehmen. Denn wenn sie scheitern, scheitern wir alle. Daher ist es keine Option, diesen Konflikt bloß zu beobachten.
Zwar verfügen wir nicht über gefestigte politische Strukturen – nach über vier Jahrzehnten permanenter Ausnahmezustände und Militärinterventionen seit dem 12. September 1980 –, doch wir verfügen über eine tief verwurzelte revolutionäre Kultur, gespeist aus der Tradition sozialer Kämpfe und solidarischen Widerstands. Die Entscheidung der PKK, ihre militärischen Aktivitäten einzustellen und sich selbst aufzulösen, hat neben ihrem symbolischen Gehalt vor allem eines bewirkt: den Weg freizumachen für die freie Entfaltung der revolutionären Energie des kurdischen Volkes.
Politische Ergebnisse besonnener Beharrlichkeit
Tatsächlich verdanken wir es der politischen Klugheit und historischen Erfahrung der kurdischen Gesellschaft sowie der demokratischen Opposition in der Türkei, dass der autoritäre Zugriff in der letzten Dekade nicht zur vollständigen Herrschaft werden konnte. Durch strategische Koalitionen, kluge Narrative und konsistente Positionierung im gesellschaftlichen Raum konnte eine kontinuierliche Verteidigungslinie aufgebaut werden.
Mit Überzeugung lässt sich sagen: Der zivile und sozio-politische Teil des sogenannten Zersetzungsplans wurde durch die kollektive politische Ausdauer der Bevölkerung, durch Erfahrung, Geduld und gemeinsames Handeln verschoben – zum Teil neutralisiert.
Jetzt gilt es vor allem, Bilanz zu ziehen. Jede autoritäre Attacke, jeder Versuch der Ausschaltung der Opposition sollte rückblickend analysiert werden – besonders mit Blick auf die flexible Reaktionsweise der kurdischen und türkischen Arbeiter:innen in den urbanen Zentren. Abkommen zwischen politischen Akteur:innen sind wichtig, aber entscheidend ist, Räume für Allianzen und Solidarität zwischen den gesellschaftlichen Gruppen zu öffnen.
Wir müssen lernen, vom instinktiven Misstrauen der Bevölkerung gegenüber autoritärer Verführung zu profitieren, auch ohne spektakuläre Konfrontation.
Heute ist das zentrale politische Ziel: zu verhindern, dass der gegenwärtige Gewaltverzicht in ein Machtinstrument der Diktatur umgedeutet wird, und gleichzeitig Wege zu schaffen, auf denen die gesellschaftlichen und demokratischen Oppositionskräfte in einer glaubwürdigen Allianz zueinanderfinden. Nur so lässt sich die Rhetorik einer „terrorfreien Türkei“ in eine Perspektive demokratischer Transformation überführen.