In der armenischen Hauptstadt Eriwan herrscht großer Andrang in den Behörden und Militärkommissariaten. Hintergrund ist die Generalmobilmachung, die am Sonntag von Regierungschef Nikol Paschinjan angeordnet wurde. Zuvor war der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder aufgeflammt, nachdem es zu einer außergewöhnlichen Gewalteskalation in Bergkarabach (Arzach) kam.
Die Behörden der international nicht anerkannten Region meldeten 16 Tote und mehr als Hundert Verletzte. Unter den Opfern sind auch Zivilist*innen. Nach armenischen Angaben wurden eine Frau und ein Kind durch aserbaidschanischen Beschuss getötet. Auch Aserbaidschan teilte mit, dass es Tote und Verletzte in den eigenen Reihen gebe. Beide Länder weisen jeweils der Gegenseite die Schuld für das Entflammen der Kämpfe zu.
Paschinjan hat die Gefechte in der Unruheregion mit dem Aserbaidschan als Kriegserklärung gewertet und vor einem militärischen Flächenbrand gewarnt. „Das autoritäre Regime von Aliyew hat seine Feindseligkeiten wieder aufgenommen. Es hat dem armenischen Volk den Krieg erklärt”, sagte der Ministerpräsident in einer Fernsehansprache. Er fügte hinzu: „Wir stehen vor einem umfassenden Krieg im Südkaukasus“, der für die Region und möglicherweise auch darüber hinaus „unabsehbare Folgen haben könnte“. Inzwischen haben beide Ex-Sowjetrepubliken jeweils das Kriegsrecht ausgerufen. In Aserbaidschan wurde zudem nach Angaben des Präsidentensprechers Hikmet Hadschijew für mehrere große Städte, darunter Baku, sowie Gebiete in der Nähe der Frontlinie in Bergkarabach, eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.
Menschenansammlungen am Hraparak-Platz
Auf dem Hraparak, dem Platz der Republik in Eriwan, bildeten sich am Nachmittag lange Schlangen an einem „Mobilisierungstisch“, den die Partei der Daschnaken aufgestellt hatte, um Frewillige zu rekrutieren. Die patriotische Partei Armeniens hatte schon im Ersten Weltkrieg den Widerstand gegen die Vernichtungspolitik der Osmanen organisiert. Unsere Eriwan-Korrespondentin sprach mit den Freiwilligen über ihre Eindrücke. „Diesen Krieg hat der aserbaidschanische Staat angezettelt. Unsere Antwort wird Widerstand sein. Als Volk sind wir zu diesem Krieg bereit“, sagte eine Frau. Ein Vertreter der Daschnak-Partei erklärte: „Es handelt sich um eine von der Türkei geplante Eskalation. Uns armenische und kurdische Völker verbindet die Gemeinsamkeit, dass wir Feinde des türkischen Staates sind. Als Volk Armeniens werden wir diesen Krieg führen. Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Errungenschaften bedeutend sein werden.“
Der alte Konflikt um Bergkarabach
Unter sowjetischer Herrschaft wurde die hauptsächlich von Armenier*innen bewohnte Region Aserbaidschan zugeschlagen. Durch den Zerfall der UdSSR erklärte sich Bergkarabach am 2. September 1991 per Volksentscheid für unabhängig, wurde jedoch international nicht anerkannt. Baku reagierte mit einer Blockade der Region und versuchte die Kontrolle mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen. Daraufhin griff Armenien mit russischer Unterstützung ein und besetzte ca. 14 Prozent des Territoriums Aserbaidschans als Schutzzone. Einem dreijährigen Krieg und ca. 30.000 bis 50.000 Toten folgte im Mai 1994 ein seit jeher brüchiges Waffenstillstandsabkommen.
Neue Front im Stellvertreterkrieg zwischen Türkei und Russland?
Aserbaidschan gehört zur Einflusssphäre der Türkei und spielt im Rahmen der pantürkischen Pläne des AKP/MHP-Regimes eine wichtige Rolle. Insbesondere für die von panturkistischer Ideologie durchdrungene MHP (Graue Wölfe) stellen die „Turkstaaten“ die Grundlage für ein „Turan“ genanntes mythologisches türkisches Großreich dar. Die AKP unterstützt diese Position ebenfalls – vor allem aus neoosmanischer und panislamischer Perspektive. So stellte sich die Türkei als einer der exogenen Konfliktverursacher am Sonntag umgehend an die Seite Aserbaidschans, Erdoğan erklärte, sein Land werde „Seite an Seite mit seinen aserbaidschanischen Brüdern stehen”. Der „Minsker Gruppe“, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die unter dem Vorsitz der USA, Russlands und Frankreichs im Konflikt um Bergkarabach vermittelt, warf Erdoğan „Nachlässigkeit“ vor. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan forderte derweil die internationale Gemeinschaft auf, die Türkei von einem Eingreifen in den Konflikt abzubringen. Russland, das mit Armenien verbündet ist und eine Armeestützpunkt im Land hat, aber auch dem Regime des aserbaidschanischen Machthabers Ilham Alijew Waffen verkauft, forderte beide Seiten auf, das Feuer einzustellen.