Yusif: In Syrien findet ein Verteilungskrieg statt

Hediye Yusif aus der Leitung der nord- und ostsyrischen Frauenbewegung Kongreya Star analysiert für ANF die aktuelle Lage in Syrien und charakterisiert die Auseinandersetzungen als einen Verteilungskrieg verschiedener Machtzentren.

Mit dem Sieg der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) über den IS hat eine neue Phase begonnen, erklärt Hediye Yusif. Diese bringe neue Machtbalancen, Allianzen und Pläne auf die Tagesordnung. Yusif beschreibt die aktuelle Phase als andauerndes Chaos, in dem Kooperation und Kämpfe sich vermischen.

Neue Phase nach Befreiung von al-Bagouz

Laut der Kongreya-Star-Aktivistin hat sich die Stellung der US-geführten internationalen Koalition in Syrien nach dem Sieg von al-Bagouz verbessert. Sie erklärt: „Der Prozess in Syrien hat eine neue internationale Ebene erreicht, denn die Pole in diesem Konflikt sind nach dem Sieg gegen den IS weitgehend klar geworden. Nun versuchen alle in Syrien ihre eigenen Vorteile durchzusetzen. So macht der US-Präsident Israels Besetzung der Golan-Höhen mit einem Federstrich offiziell. Auch zwischen Russland und Israel kam es zu einem Übereinkommen. Früher hatte nur der Iran in Syrien Einfluss, aber jetzt hat sich die internationale Koalition eine feste Präsenz aufgebaut. Die USA haben ganz offen gesagt, dass sie ohne eine Lösung der Syrienkrise nicht abziehen werden und ihre ökonomischen Interessen in der Region mit ihrer Präsenz verfestigen wollen."

Kooperation und Kampf vermischen sich

Welche Ziele die Türkei in Syrien verfolgt, ist für Yusif klar. Ankara will die Kontrolle in den von ihr okkupierten Gebiete verstetigen. Die türkische Regierung habe ihre Augen begierig auf weitere Gebiete gerichtet: „Die Türkei begehrt sogar Aleppo. Das ist natürlich nicht gut für Russland, denn die Vereinbarung zwischen Russland und der Türkei hatte engere Grenzen. Es ging im Wesentlichen um Idlib und Efrîn. So hat die Türkei die zu ihr gehörigen Milizen aus Idlib nach Azaz und Efrîn abgezogen. Für Russland ist es schwierig, den Krieg in Idlib alleine zu führen. Die USA stellen sich ohnehin gegen eine Offensive in Idlib, weil sie wissen, dass im Falle eines militärischen Siegs das Astana-Bündnis (Russland-Iran-Türkei) gestärkt werden würde. Deswegen will Russland unbedingt die Türkei in ihre Pläne für Idlib einbeziehen.

Die USA und die Türkei sind einerseits Partner, andererseits kommen sie an etlichen Punkten nicht überein. Sie haben untereinander Schwierigkeiten, aber die strategischen Beziehungen zwischen beiden Staaten bestehen fort. So versucht die Türkei, um die von ihr besetzten Gebiete eine Grenze zu ziehen, Mauern zu bauen und die Demografie verändern. Die Türkei will vollendete Tatsachen schaffen. Gleichzeitig gelingt es Ankara auch nicht, die Versprechen, die dem Iran und Russland in Bezug auf Idlib gegeben worden sind, einzuhalten. Wir haben es also mit einer vollends chaotischen Situation zu tun, in welche die Türkei auch den Iran und Russland mit hineinzieht."

Russland unterschrieb hastig das Abkommen

Yusif weist darauf hin, dass Russland keinerlei Reaktion auf die Legalisierung der israelischen Okkupation der Golan-Höhen gezeigt hat. Daraus schlussfolgert sie: „Das hat etwas damit zu tun, dass sich Russland von einigen seiner bisherigen Partnern distanziert. Eine dieser Partner ist der Iran. Nach dem Sieg über den IS steht der Iran noch klarer auf der Zielscheibe der NATO. Die USA hat in der Region viel investiert, um den Iran in die Enge zu treiben. Heute ist der Iran vollständig blockiert. Russland hingegen will nicht in einen direkten Konflikt mit den USA geraten. Dieser Plan passt auch mit den Interessen Russlands zusammen. Die Ausschaltung des Irans bedeutet in manchen Gebieten eine Stärkung Russlands. Aus diesem Grund haben sich Russland und Israel verständigt. Bisher haben weder Russland noch das syrische Regime in irgendeiner Weise reagiert, wenn iranische Truppen in Syrien angegriffen wurden. Natürlich stellt dies auch einen Grund für die Krise zwischen dem Iran und Russland dar."

Das Regime ist beunruhigt

Wie der Iran versucht, im Verhältnis zwischen Damaskus und Moskau zu intervenieren, beschreibt Yusif wie folgt: „Ein weiterer Grund für die Krise ist die Präsenz türkischer Truppen in Idlib. Das Regime sieht manche Dinge nun klarer. Vor seinen Augen wird Syrien zerteilt und alle versuchen sich davon eine Scheibe abzuschneiden. Dass vermeintlich immer an der Überwindung der Syrienkrise gearbeitet wurde, erweist sich auch für das Regime spätestens jetzt als Lüge. Wirkliche Kontrolle üben die Regimekräfte tatsächlich nur in Damaskus aus. Das beunruhigt natürlich das Regime. Wenn es Haltung gegenüber Russland beziehen würde, würden neue völkerrechtliche Fragen auftauchen.

Scheinbar auf die Seite von Damaskus springt bei dieser Frage der Iran. Das wiederum vertieft die Krise. Selbst die Akteure von Astana können sich nicht mehr verständigen. Das wird auch an ihrer Praxis auf syrischem Boden deutlich. Vor allem der Iran ist mit Russlands Haltung nicht zufrieden. Teheran will unbedingt verhindern, dass es zu einer Verständigung zwischen Russland und den USA in Hinblick auf Syrien kommt. Der Iran versucht deshalb auch seine Bündnispartner innerhalb der syrischen Regierung gegen Russland zu organisieren. Der Iran versucht so seine Interessen zu wahren und Russland das Wasser abzugraben. Den iranischen Machthabern geht es hierbei nicht primär um den Erhalt der syrischen Einheit. Sie machen sich eher Sorgen um die eigene Existenz, die sie als bedroht erachten."