Im kriegsgebeutelten Syrien sind laut den Vereinten Nationen mindestens 100.000 Menschen verschwunden. Tatsächlich könnten jedoch noch viel mehr Menschen nicht auffindbar sein, sagte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, am Dienstag (Ortszeit) vor der UN-Vollversammlung in New York.
Die meisten Verschwundenen seien Männer. Kinder wüchsen ohne ihre Väter auf. Ehefrauen, Mütter und Schwestern kämpften um den Unterhalt ihrer Familien. Ohne ordnungsgemäße Dokumente hätten sie keine Eigentumsrechte. Sie könnten möglicherweise nicht mit ihren Kindern reisen oder sie zur Schule schicken.
Türk berichtete von Stigmatisierung und Angst der Familienangehörigen. Die Suche nach den verschwundenen Menschen verstärke das Risiko der Ausbeutung, der körperlichen Bedrohung und Erpressung. Auch geht sie mit der Gefahr einher, selbst festgenommen zu werden und zu verschwinden. Er forderte die Generalversammlung auf, eine internationale Institution zu gründen, die den Verbleib der verschwundenen Syrerinnen und Syrern in den Mittelpunkt stellt.
Das ungeklärte Schicksal der Vermissten und Verschwundenen ist eine der größten Tragödien des Syrienkrieges. Gerade die Methode des gewaltsamen Verschwindenlassens von Gegnern oder vermeintlichen Gegnern durch das syrische Regime oder auch andere Konfliktparteien der Syrien-Krise gehört seit Kriegsbeginn vor zwölf Jahren zum Alltag der Bevölkerung.
Türk wies auf einen Bericht hin, den UN-Generalsekretär António Guterres bereits im vergangenen Herbst auf Ersuchen der UN-Generalversammlung zu der Frage veröffentlichte, wie die Anstrengungen zur Klärung des Schicksals und des Verbleibs vermisster Personen in Syrien und zur Unterstützung ihrer Familien verstärkt werden können. Darin empfiehlt Guterres den Mitgliedstaaten unmissverständlich, einen neuen Mechanismus einzurichten, der die bereits bestehenden Bemühungen zur Bewältigung dieser Situation koordinieren und darauf aufbauen soll.
„Das anhaltende Fehlen von vielen zehntausend Menschen, von kleinen Kindern bis hin zu älteren Männern und Frauen, schreit nach entschlossenem Handeln“, betonte Türk. Der gemeinsame Schmerz von Angehörigen Verschwundener und der weit verbreitete Verlust – in Nachbarschaften und Dörfern im ganzen Land – müsse endlich angegangen werden, forderte er. „Ohne ein solches Handeln wird die Versöhnung in weiter Ferne bleiben. Schritte in diese Richtung können der Anfang dafür sein, das Vertrauen zwischen gespaltenen Gemeinschaften wiederherzustellen.“
Türk forderte die UN-Generalversammlung auf, die Einrichtung einer neuen Institution umzusetzen, die dazu beitragen werde, allen Familien der vielen Vermissen und den Überlebenden der Praxis des Verschwindenlassens Antworten und Unterstützung zukommen zu lassen. Solch ein Mechanismus würde den Menschen im „verwundeten und erschöpften Syrien“ Klarheit darüber verschaffen, was geschehen ist, und denjenigen, die sie dringend benötigen, praktische Unterstützung und Hilfe zukommen lassen. „Das sind wir den Menschen in Syrien schuldig.“