In Nord- und Ostsyrien ist eine Wahrheitskommission aufgestellt worden, die das Schicksal von Tausenden von Verschwundenen klären soll. Die Bildung des Untersuchungsausschusses erfolgte auf Initiative des Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), Mazlum Abdi Kobanê. Ziel sei es, die Wahrheit herauszufinden und Gerechtigkeit herzustellen. Es ist ein erster Schritt in die Richtung, innerkurdische Differenzen aus dem Weg zu räumen, zur Vertrauensbildung zwischen den verschiedenen politischen und militärischen Akteuren beizutragen und die nationale Einheit der Kurdinnen und Kurden Syriens zu fördern.
Der Vorschlag der QSD-Generalkommandantur wurde von den betroffenen Kreisen weitgehend begrüßt und richtete sich im Besonderen an den Kurdischen Nationalrat (Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê -ENKS). Gerade im Kontext der türkischen Expansionspolitik wird eine nationale Einheit als unbedingt notwendig erachtet, da sie entscheidend für die Zukunft des kurdischen Volkes ist.
Als erste Handlung leitete die Kommission Untersuchungen zum Verbleib von zehn führenden Mitgliedern des ENKS ein, die zwischen 2012 und 2019 aus verschiedenen Regionen Rojavas „verschwunden“ sind. Dabei handelt es sich um:
1- Jamil Omar, verschwunden am 13. Juli 2012 in Qamişlo
2- Behzad Dorson, verschwunden am 24. Oktober 2012 in Dêrik
3- Nidal Othman, verschwunden am 24. Oktober 2012 in Dêrik
4- Ahmed Othman Sidou, verschwunden am 19. September 2013 in Efrîn
5- Ahmed Khalil Sino, verschwunden am 11. Oktober 2013 in Efrîn
6- Idris Alou, verschwunden am 8. November 2013 in Efrîn
7- Shaaban Abdel Hamid Sheikho, verschwunden am 15. November 2013
8- Amir Hamid, verschwunden am 11. Januar 2014 in Dirbêsiyê
9- Fouad Ibrahim, verschwunden am 24. März 2017 in Dêrik
10- Saud Mizar al-Essa, verschwunden am 27. November 2019 in Dirbêsiyê.
Mindestens 3.286 „Verschwundene“ in Rojava
Unmittelbar nach Erhalt der Namensliste hat die Kommission umfangreiche Untersuchungen zu den Hintergründen des Verschwindens der vermissten Personen eingeleitet. Acht von ihnen sind laut einem vorläufigen Bericht in den Wirren des sicherheitspolitischen Chaos, das im Verlauf des Bürgerkrieges mit der Ausbreitung von terroristischen Zellenstrukturen und Aktivitäten regionaler Geheimdienste zusammenfiel, und noch vor Etablierung der Selbstverwaltung und ihrer Institutionen am 21. Januar 2014 verschwunden. Trotz den Schwierigkeiten, denen sich die Untersuchungskommission während ihrer Recherche gegenübersah, und den weitreichenden Veränderungen in der Region, gelang es, Informationen zu ermitteln, die zur Aufklärung des Schicksals von einigen der verschwundenen Personen beitragen können. Dazu heißt es: „Zur Aufklärung um das ‚Verschwindenlassen‘ von Jamil Omar, einem ehemaligen Mitglied der PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat, deutsch: Partei der demokratischen Einheit, Anm. d. Red.), konnte festgestellt werden, dass der Betroffene von Sicherheitsdiensten der syrischen Zentralregierung in einem vom Regime kontrollierten Gebiet in Qamişlo verschleppt wurde. Im Fall von Amir Hamid und Fouad Ibrahim dauern unsere Nachforschungen an.
Wir teilen mit, dass wir im Zuge von Ermittlungen gegen unsere Angehörigen und im Einklang mit unseren moralischen Verpflichtungen die volle Verantwortung für ihr Schicksal übernommen haben. Der Identifizierung und der Fahndung nach den Tätern wird viel Aufmerksamkeit gewidmet. Sobald sie gefasst sind, wird Anklage gegen sie erhoben.
Keine Untersuchungen in Efrîn möglich
Die Familien der Vermissten und die betroffenen politischen Parteien werden laufend über die bisherigen Ermittlungsergebnisse informiert. Im Fall von Saud Mizar al-Essa wurde festgestellt, dass er von Angehörigen der Internen Sicherheitskräfte verhaftet und am 20. Dezember 2019 auf freien Fuß gesetzt wurde.
Das Schicksal von Behzad Dorson und Nidal Othman konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht aufgeklärt werden. Entsprechend unserem Selbstverständnis obliegt ihr ‚Verschwindenlassen‘ der Verantwortung der YPG, den Sicherheitskräften des Asayisch und der administrativen Verwaltung. Schließlich sind Dorson und Othman in einer von den YPG kontrollierten Region verschwunden. Bis zur lückenlosen Aufklärung ihres Verbleibs tragen wir die juristische Verantwortung.“
Zum Verbleib der in Efrîn vermissten Personen hat die Wahrheitskommission bisher keine Untersuchungen in die Wege leiten können, da der Kanton seit März 2018 von der Türkei und ihren dschihadistischen Verbündeten besetzt ist. Unter den gegebenen Umständen seien weder der Zugang in die Region noch ausreichende Nachforschungen möglich, so die QSD.
„Ethische und juristische Pflicht”
Abschließend heißt es in dem Bericht: „Als Demokratische Kräfte Syriens sind wir uns bewusst darüber, dass das Projekt zur Aufarbeitung des Schicksals von verschwunden gelassenen Menschen aus Cizîrê, Kobanê, Efrîn und anderen Regionen Rojavas in vielerlei Hinsicht sehr komplex ist. Bisher wurden 3.286 Fälle dokumentiert. 544 von ihnen wurden vom IS verschleppt, 2.368 weitere Menschen von syrischen ‚Oppositionsgruppen‘. Für das Verschwindenlassen von 374 Personen sind syrische Regimekräfte verantwortlich.
Die Untersuchung des Schicksals vermisster Personen ist eine ethische und juristische Pflicht und erfordert eine sorgfältige Arbeit, die gemeinsam mit allen aktiven Akteuren angegangen werden muss. In diesem Sinne ist es unabdingbar, dass die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens ihre gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt.”