Situation in Idlib entwickelt sich nicht im Interesse der Türkei
Hinter den gestern begonnenen Protesten gegen die Türkei in Idlib soll eine „dritte Seite“ stecken – nämlich Saudi-Arabien.
Hinter den gestern begonnenen Protesten gegen die Türkei in Idlib soll eine „dritte Seite“ stecken – nämlich Saudi-Arabien.
Nachdem der strategisch wichtige Ort Chan Scheichun bei Idlib vollständig vom Regime und russischen Truppen eingenommen worden ist, explodierte gestern die Wut auf die Türkei in der umkämpften Region. Hinter den antitürkischen Protesten sollen Saudi-Arabien und die Vereinten Arabischen Emirate stehen. Russland hat eine ab heute Morgen um sechs Uhr gültige einseitige Feuerpause ausgerufen.
Parole „Verräter Türkei“ hallt durch Idlib
Gestern zogen Tausende Menschen in Idlib nach dem Freitagsgebet zum Grenzübergang Bab al-Hawa, der in die Türkei führt. Die Demonstranten riefen dschihadistische Parolen und „Verräter Türkei“. Auch eine Parole vom Beginn des syrischen Bürgerkriegs war zu hören: „Das Volk will das Regime niederreißen“.
Erdoğan-Bilder verbrannt
Die türkische Armee ging mit Tränengas, Wasserwerfern und scharfer Munition gegen die Demonstranten vor. Die Protestierenden verbrannten Bilder des türkischen Regimechefs Erdoğan. Nach dem Fall von Chan Scheichun war Erdoğan nach Moskau gereist und soll neue Vereinbarungen mit dem russischen Präsidenten zum Abzug der Dschihadisten aus Idlib und der Auflösung der Gruppen getroffen haben.
„Du hast die Umma für eine Tüte Eis verkauft“
Seit zwei Tagen tauchen in den sozialen Medien scharfe Kritiken an Erdoğan und der Türkei auf. Angelehnt an die Aufnahme, die Putin und Erdoğan beim gemeinsamen Eis-Essen am 27. August in Moskau zeigt, heißt es auf Twitter: „Wer die Umma für eine Tüte Eis verraten hat, wird nicht vergessen werden.“
Steht eine dritte Partei dahinter?
Einige Stimmen behaupten, die gestrigen Proteste seien von der Türkei angestachelt worden, um die Angst vor weiteren Flüchtlingen in Europa und den USA anzuheizen, dann aber außer Kontrolle geraten. Andere mutmaßen, hinter diesen Protesten stünde eine dritte Partei, unabhängig von den Milizen und der Türkei. Sie sprechen von den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien. Beide Mächte setzen ihre langjährigen Beziehungen mit dem syrischen Regime fort.
VAE und Saudi-Arabien im Angriff, Katar zieht sich zurück
Im März 2015 war „Jaish al-Fatah“ in Idlib eingefallen. Jaish al-Fatah wurde in großen Teilen von den VAE und Saudi-Arabien unterstützt. Es heißt, die VAE und Saudi-Arabien hätten die Proteste als Offensive gegen die Türkei und Katar gestartet. In der letzten Zeit hat Katar die Unterstützung für die Milizen eingestellt.
Gruppen könnten die Fronten wechseln
Die vornehmlichen Ziele des syrischen Regimes und Russlands sind die Städte Maaret al-Numan, Jisr al-Shugur und Serakib vor den Toren von Idlib. Quellen berichteten, dass vor dem Treffen zwischen Russland, dem Iran und der Türkei in Ankara am 16. September einige der bewaffneten Gruppen zum Regime überlaufen könnten. Das Regime und Russland treffen sich seit einer Weile mit einigen ebenfalls von der Türkei unterstützten Gruppen und es heißt, sie könnten ähnlich wie in Dara zum Regime überwechseln.
Der Waffenstillstand ist eine Botschaft
Es wird vermutet, dass die Botschaft Russlands bei der Ausrufung des Waffenstillstands gestern, die bewaffneten Gruppen sollten von Provokationen absehen und am Prozess der Stabilisierung der unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete teilnehmen, genau an diese Gruppen gerichtet ist.
Die Türkei kann zwei Beobachtungspunkte räumen
Außerdem könnte die Türkei zwei eingekreiste Beobachtungspunkte südlich von Chan Scheichun räumen. Es heißt, Russland setze die Türkei in diesem Zusammenhang unter Druck. Gestern hat der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar erklärt: „Wenn die Beobachtungspunkte angegriffen werden, wird der Angriff erwidert.“ Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu betonte, dass Russland der Türkei eine Garantie in Bezug auf die in Idlib befindlichen Beobachtungspunkte gegeben hat. Das syrische Regime übt über Russland Druck auf die Türkei aus.
Russland gestärkt
Russlands Position wurde durch die Schwächung der Türkei in der Region gestärkt. Russland plant nun im Süden der Region einen Korridor zum Abzug der Zivilbevölkerung einzurichten. Wahrscheinlich soll der Korridor nach dem Waffenstillstand in der Nähe von Maaret al-Numan vorbeiführen. Maaret al-Numan ist bekannt als ein Ort, in dem das Regime eine starke Basis in der Bevölkerung hat. Russland will mit dem Korridor möglichen Protesten gegen die Operation aus dem Westen den Wind aus den Segeln nehmen.
Erdoğan gibt zu: „Die Entwicklungen entsprechen nicht unseren Wünschen“
Während die Situation in Idlib für die Türkei immer schwieriger wird, erklärte der türkische Regimechef Erdoğan gestern: „Wenn wir behaupten würden, die Entwicklungen in Idlib seien am von uns gewünschten Punkt, dann wäre das eine Lüge. Das sind sie nämlich nicht.“
Rückkehr zur Erpressung durch Flüchtlingsfrage
Da sich die Situation in Idlib nicht im Interesse der Türkei entwickelt, wird davon ausgegangen, dass die Türkei erneut die „Flüchtlingskarte“ spielen wird und auf diese Weise Druck auf die europäischen Staaten ausüben will. Darauf deutet auch der Anstieg der Überfahrten über die Ägäis hin. Erst gestern kam ein Boot mit 650 Schutzsuchenden auf Lesbos an: Eine Zahl, die seit Jahren nicht erreicht wurde. Der griechische Außenminister hat den Botschafter der Türkei einbestellt und ihn an den EU-Türkei-Deal erinnert.
Gegensätzliche Offensiven vor den Gipfeln
Vor dem Dreiergipfel am 16. September in Ankara und dem geplanten Gipfel zwischen Frankreich, Russland, Deutschland und der Türkei versuchen die unterschiedlichen Parteien ihren Interessen im Feld Nachdruck zu verleihen. Für die Türkei bedeutet das insbesondere die „Flüchtlingskarte“ zu spielen.