Die ungelöste kurdische Frage im Mittleren Osten stellt seit über einem Jahrhundert einen der schwerwiegendsten Konflikte in der Region mit dramatischen politischen und humanitären Folgen dar – für alle vier Zentralstaaten, auf die das historische Siedlungsgebiet der Kurden recht willkürlich aufgeteilt wurde: Türkei, Iran, Irak und Syrien. Durch die Situation der „Teile-und-herrsche-Politik“ wurde nicht nur ein Mittlerer Osten geschaffen, der einem offenen Pulverfass gleicht und unaufhörlich mit Dynamit gefüttert wird. Im „viergeteilten” Kurdistan hat sich, beginnend mit der Leugnung einer kurdischen Existenz überhaupt, ein ungelöster Identitätskonflikt etabliert. Auch aus diesem Aspekt betrachtet wird die Lösung der kurdischen Frage und die kurdische Selbstbestimmung als das Schlüsselelement der Demokratisierung des Mittleren Ostens gesehen.
In Syrien bilden die Kurden die größte Minderheit des Landes. Ihre Unterdrückung hat ähnlich wie in der Türkei eine jahrzehntelange Geschichte. Das syrische Regime setzte ebenfalls auf Gewaltherrschaft und Leugnung der kurdischen Existenz. Die Anerkennung der kurdischen Identität galt als Bedrohung der nationalen Einheit. Schon bevor das Land in den 1960er Jahren von politischer Instabilität geprägt wurde – einem Putsch folgte der nächste – erfuhren die Kurden brutale Unterdrückung. 1958 wurden die Publikation kurdischer Bücher und der Unterricht in kurdischer Sprache an den Schulen verboten. Die Behörden arabisierten die Namen kurdischer Dörfer und Städte. Im Jahr 1962 wurde nach einer Volkszählung in Hesekê 120.000 Kurden die syrische Staatsbürgerschaft aberkannt. 1963, kurz nachdem sich die Baath-Partei an die Macht geputscht hatte, nahmen die Pläne, den Norden Syrien zu „arabisieren“, mit dem sogenannten „12-Punkte-Plan“ von Talab Hilal, dem damaligen Polizeidirektor von Hesekê, Gestalt an. Seine rassistischen und antisemitischen Vorstellungen hinsichtlich des Umgangs mit dem Kurden waren eindeutig: Hilal betitelte die Kurden als „bösartigen Tumor“. Diesen „heraus zu schneiden“, sei der einzige richtige Umgang, um Syrien zu „heilen”.
Zehn Jahre später wurde die sogenannte „Arabisierung” in einem 350 Kilometer langen und etwa fünfzehn Kilometer breiten „arabischen Gürtel“ entlang der Grenze zur Türkei umgesetzt, um damit die ethnische Bevölkerungszusammensetzung zugunsten der arabischen Bevölkerung zu verändern. Im Zuge des Arabisierungsprojekts wurden bereits ab Anfang der 1970er Jahre Dutzende neue Dörfer errichtet und viertausend arabische Familien aus Raqqa und Aleppo angesiedelt. Kurden wurden gezielt aus ihrer angestammten Heimat vertrieben oder deportiert, ihre Anbauflächen eingezogen und den neu angesiedelten Arabern zugesprochen. Das Regime stellte diese faktische Enteignung als „Privatisierung” dar, entzog den enteigneten Kurden ihre Staatsbürgerschaft und arabisierte alle kurdischen Ortsnamen. Dennoch blieben die Kurden standhaft und weigerten sich, der Forderung des Regimes die Region zu verlassen, nachzukommen.
Syriens Staatspräsident Baschar al-Assad, der die Unterdrückungspolitik seines Vaters Hafiz al-Assad seit 2000 fortsetzt, äußerte jüngst in einem Interview im russischen Fernsehen, dass eine „Kurdenfrage” in Syrien nicht existiere. Gegenteilige Behauptungen seien „illusorisch und eine Lüge”. Im Übrigen seien alle in Nordsyrien beheimateten Kurden im letzten Jahrhundert aus der Türkei eingewandert.
Dass das Assad-Regime trotz der seit nunmehr neun Jahren anhaltenden und sich immer mehr verschärfenden Krise in Syrien offensichtlich nichts an seiner Haltung in Bezug auf die Kurden geändert hat und an seiner Assimillierungspolitik festhält, hat in den selbstverwalteten Gebieten Nord- und Ostsyriens scharfe Kritik hervorgerufen. In einer schriftlichen Stellungnahme erinnert die Autonomieverwaltung daran, dass sich Syrien, einst gebeutelt von inneren Konflikten, innerhalb eines knappen Jahrzehnts zu einem Kriegsschauplatz zahlreicher bewaffneter Gruppen und internationaler staatlicher Akteure entwickelt hat. „Das syrische Regime als Architekt dieser bisher ungelösten Krise entzieht sich seiner Verantwortung, statt Lösungen zu finden. Dass sich Baschar al-Assad unter diesen Umständen auf die Mentalität versteift, die diese Krise hervorbrachte, ist inakzeptabel.”
Die Selbstverwaltung unterstreicht, dass der Umgang des Regimes mit den Kurden einzig dem türkischen Staat, der große Gebiete syrischen Territoriums besetzt hält, in die Hände spiele. „Die Regierung in Damaskus gibt an, Syrien werde sein Territorium verteidigen und keine Besetzung ‚syrischen Bodens’ akzeptieren. Die jüngsten Aussagen Assads behindern jedoch die Suche nach einer Lösung der Krise und zeugen vom Desinteresse des Regimes an einem Dialog. Die kurdische Frage ist eines der wesentlichsten Probleme und ihre Lösung der Schlüssel zur Demokratisierung des Landes. Eine friedliche Lösung würde den Weg zur Entschärfung der Krisen ganz Syriens ebnen.”
In Anspielung auf die von Assad gegen den kurdischen Bevölkerungsteil und die Völker Nord- und Ostsyriens erhobenen Separatismusvorwürfe fordert die Autonomieverwaltung das Regime auf, einen Blick in die jüngere Vergangenheit und auf den Widerstands Efrîns gegen den türkischen Staat und dessen „terroristische Dschihadistenfraktionen” zu werfen - ein Kampf, welcher der Verteidigung der Integrität Syriens galt. „Alle, die uns nun vorwerfen, in Syrien Separatismus zu betreiben, sollen sich mit Nachdruck an diejenigen erinnern, die Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) mit ihrem Leben verteidigten. Nicht vergessen ist, dass das Regime zur Invasion schwieg und die Geschehnisse lediglich aus der Ferne beobachtete. Wir als die Völker Nord- und Ostsyriens haben uns der Verteidigung eben dieses syrischen Bodens verschrieben, welches das Regime vorgibt, zu beschützen. Unsere Verdienste sind offensichtlich, belegen müssen wir sie nicht. Und wir haben das Recht, folgende Frage an das Regime zu richten: Welche Erfolge hat Damaskus für die Verteidigung syrischen Territoriums erzielt? Kann in diesem Kontext überhaupt von Erfolgen gesprochen werden?”
Die Autonomieverwaltung betont in ihrer Erklärung, dass dass Regime endlich eine lösungsorientierte Haltung annehmen muss, um Syrien aus der Krise zu führen. Andernfalls würden sich die Konflikte weiter verschärfen. An der jetzigen Mentalität festzuhalten und auf einer Logik zu beharren, die im krassen Gegensatz zu einer nachhaltigen Entwicklung für Syrien stehe, weise keine Unterschiede zu der Mentalität auf, die die Besatzung nordsyrischer Städte durch die Türkei ermöglichte.
Für eine syrienweite Perspektive zur Lösung aller Probleme bedürfe es einer erneuerten politischen Agenda, die Veränderungen zulässt und Demokratie verinnerlicht, lautet der Vorschlag der Autonomieverwaltung.
„Um ein demokratisches Syrien aufzubauen, müssen die Wege geöffnet werden. Gleichzeitig sollte akzeptiert werden, dass die kurdische Frage einer der Hauptfaktoren der Krise Syriens ist. Die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens strebt keine Teilung Syriens an. Das Projekt einer demokratischen Nation, so wie es in den selbstverwalteten Gebieten umgesetzt wird, hat als Grundlage die Geschwisterlichkeit der Völker. Es hat gezeigt, dass es erfolgreich ist. Aussagen, die darauf abzielen, dieses alternative System, das sich bereits bewährt hat, zu diffamieren, nützen einzig denjenigen, die Syriens Teilung anstreben.”