Die am Samstag eingesetzte Angriffswelle der Türkei und verbündeten Dschihadistenmilizen gegen Teile von Nordostsyrien wurde am Sonntag mit hoher Intensität fortgesetzt. Aus mehreren Dörfern in Efrîn, aber auch dem benachbarten Şehba wurde schweres Artilleriefeuer gemeldet. Die Bombardierungen fokussierten sich wie bereits am Vortag auf Siedlungsgebiete in Şêrawa sowie Ortschaften nahe der Stadt Tel Rifat.
Zwischen Nachmittags- und Abendstunden haben die türkische Armee und islamistische Proxy-Soldaten der Regierung Ankaras die Regionen Efrîn und Şehba dutzende Male unter Beschuss genommen. Das geht aus einem abendlichen Bericht des örtlichen Militärrats hervor, der an die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) angebunden ist. In den bombardierten Dörfern seien mindestens 545 Granaten und Raketen eingeschlagen, es ist von schwerem Sachschaden in Häusern und Anbauflächen der lokalen Bevölkerung die Rede. Ob es auch Verletzte gab, war zunächst unklar.
In Efrîn konzentrierte sich der Beschuss gegen die Dörfer Eqîbê (auch Aqibe), Bênê, Miyase und Zirneît sowie angrenzende Felder. Die Orte befinden sich im südöstlich des ehemaligen Kantons gelegenen Kreis Şêrawa, der nicht vollständig von der Türkei und ihren dschihadistischen Verbündeten besetzt ist. Aus Tel Rifat im Kanton Şehba wurde Beschuss in den Dörfern Bêlûniyê und Eyn Deqnê gemeldet.
Der nahegelegene syrische Militärflugplatz Menagh (auch Minnigh, ku. Minix) sowie ein Stützpunkt von Regimetruppen nördlich von Tel Rifat befanden sich ebenfalls im Visier. Auch dort schlug türkische Artillerie ein, wie es heißt. Aktuell finden über der Region intensive Aufklärungsflüge statt. In Eqîbê und Bêlûniyê dauern die Bombardierungen vereinzelt an.
Türkei begründet Angriffe mit „Vergeltung“
Das türkische Verteidigungsministerium äußerte am Abend, die Bombardements in Nordsyrien seien als „Vergeltung“ für vermeintliche „Raketenangriffe“ der Volksverteidigungseinheiten (YPG) auf sogenannte „Stützpunkte“ der Türkei „in den Gebieten der Operationen Olivenzweig und Schutzschild-Euphrat“ – gemeint ist die illegale Besatzungszone im Grenzstreifen und nicht etwa türkisches Staatesgebiet – verübt worden. Dabei seien vier Soldaten verletzt worden. Daraufhin habe man „Gegenmaßnahmen“ durchgeführt.
Die Mär von der Selbstverteidigung
Die Türkei hat seit 2016 bereits vier Invasionen in Nordsyrien initiiert, um weite Teile des kurdisch geprägten Grenzstreifens zu besetzen. Ankara versucht seit Jahren, an der Grenze zu Syrien eine „Pufferzone“ einzurichten und führt einen offenen Zermürbungskrieg, um die Kurdinnen und Kurden von dort zu vertreiben. Dabei beruft sich die türkische Führung auf das Selbstverteidigungsrecht von Staaten. In Artikel 51 der UN-Charta ist das „naturgegebene“ Recht zur Selbstverteidigung zwar verankert – „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Im Fall der türkischen Militärgewalt sind die Voraussetzungen für eine Berufung auf Artikel 51 laut dem Völkerrecht aber nicht gegeben. Die Türkei kann dies nur dann in Anspruch nehmen, wenn ihr Staatsgebiet Ziel eines bewaffneten Angriffs aus einem anderen Land war oder allenfalls ein Aggressionsakt gegen den eigenen Staat nachweislich unmittelbar bevorsteht. Ein einzelner, isolierter Angriff, selbst wenn er unter die Bezeichnung „Terrorakt“ fallen würde, wäre völkerrechtlich nicht ausreichend. Damit das Selbstverteidigungsrecht angewendet werden darf, muss es eine nennenswerte militärische Aktion gegen türkisches Territorium geben – im aktuellen Fall soll die illegale Besatzungszone Ankaras in Nordsyrien angegriffen worden sein. Im Völkerrecht gibt es zudem kein Recht auf Vergeltung: das Selbstverteidigungsrecht umfasst kein Recht auf Vergeltung.
Hinweis: Diese Meldung wurde aktualisiert und mit der Erklärung des türkischen Verteidigungsministeriums ergänzt.