Russland benutzt Ankara und Damaskus als Druckmittel

Russland verschärft kontrolliert die Spannungen von Idlib über Ain Issa bis Qamişlo und benutzt Ankara und Damaskus als Druckmittel, um eigene Interessen gegenüber Nord- und Ostsyrien durchzusetzen. Jedoch kann der Konflikt Russland jederzeit entgleiten.

Die Verteilungskämpfe der regionalen und internationalen Mächte auf syrischem Territorium haben sich in den ersten Tagen des Jahres 2021 verschärft. Alle Kräfte vor Ort weiten ihre militärischen sowie nachrichtendienstlichen Aktivitäten und die psychologische Kriegsführung aus. Angeführt wird dieser Trend von der Türkei und Russland.

Einerseits verstärkte der türkische Staat seine Angriffe auf Nord- und Ostsyrien und Şehba, aber insbesondere auf Ain Issa, andererseits werden türkische Truppen in Idlib weiter zusammengezogen.

Artillerieangriffe in Ain Issa und Idlib, Provokationen in Qamişlo

Russlands Janusköpfigkeit wird deutlich, wenn man das Vorgehen in Idlib und Ain Issa vergleicht. Während die türkischen Angriffe im Norden Syriens ein offensichtlich willkommenes Mittel sind, um Druck auf die Selbstverwaltung auszuüben, führt die türkische Truppenkonzentration in Idlib zu russischen und syrischen Gegenreaktionen. Währenddessen versuchen die syrische Regierung und ihre paramilitärischen Kräfte, in Qamişlo Auseinandersetzungen zu schüren. Gleichzeitig greifen Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) und die Dschihadistengruppe Hurras al-Din in verschiedenen Gebieten unter Regimekontrolle an.

Ain Issa: Strategischer Ort im Kreuzfeuer

Der türkische Staat eskalierte in den letzten Wochen seine Angriffe auf Ain Issa. Dies steht im Widerspruch des Sotschi-Abkommens, das im Oktober 2019 zwischen Ankara und Russland nach der Besetzung von Girê Spî und Serêkaniyê geschlossen worden war. Ain Issa hat strategische Bedeutung, denn es verbindet die Linien Kobanê-Raqqa, Kobanê-Cizîrê und Minbic-Cizîrê. Außerdem kann von Ain Issa auch die syrische Ostwestachse, die Schnellstraße M4, kontrolliert werden.

Russland versucht, die türkischen Angriffe dafür zu nutzen, um eine Übergabe von Ain Issa an das Regime zu erzwingen. Als sich die Menschen in Ain Issa und die Selbstverwaltung dieser Erpressung nicht beugten, nahmen die Angriffe der Türkei weiter zu. Die Selbstverwaltung nimmt die Forderungen Russlands dennoch nicht an, denn sie sieht Ain Issa als „Pilotzone“ an, an deren Beispiel Russland und das Regime ihre Kontrolle im Falle eines Erfolgs über das gesamte selbstverwaltete Gebiet herstellen wollen.

Russlands doppeltes Spiel

Nach der Ablehnung der Übergabe Ain Issas an das Regime durch die Selbstverwaltung und dem erfolgreichen Widerstand der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gegen die Invasion fand am 10. Dezember ein Treffen zwischen militärischen Vertreter*innen Russlands, der QSD und des syrischen Regimes in Ain Issa statt. Infolge des Treffens wurde die Errichtung von drei gemeinsamen Beobachtungspunkten, zwei im Westen der Stadt, einer im Osten, vereinbart. Nach der Errichtung der Beobachtungsposten traf sich die russische Militärpolizei mit Vertretern der Türkei in Şergirak in der Nähe von Ain Issa. In der Folgezeit gewannen die Angriffe der Türkei von neuem an Intensität.

Die neuen russischen Stützpunkte

Es fällt auf, dass Russland parallel auch zwei Basen im Süden in der Gemeinde Til Semen, zwischen Raqqa und Ain Issa, errichtet hat. Diese Stützpunkte lassen befürchten, dass Russland ein ähnliches Szenario wie in Efrîn in Betracht zieht. Die Räumung der eingekesselten türkischen Stützpunkte in Idlib deutet auf einen Deal hin. Russland könnte das Efrîn-Szenario wiederholen, seine Stützpunkte fluchtartig räumen und sich in beiden Punkte im Süden zurückziehen.

Idlib – die andere Seite der russischen Waage

Unterstützt wird dies auch durch die Aktionen Russlands in Idlib. So nahm Russland parallel zu den Angriffen der Türkei auf Ain Issa Ortschaften im Norden von Latakia bei Idlib unter schweren Beschuss.

Gemäß der am 5. März 2020 zwischen Russland und dem türkischen Staat unterzeichneten Moskauer Waffenruhe hätte das Gebiet an die syrische Regierung übertragen und die Schnellstraße M4 geöffnet werden müssen. Allerdings erfüllte der türkische Staat diese Bedingung nicht, und Russland kündigte vor zwei Monaten an, die gemeinsamen Patrouillen mit der Türkei auf unbestimmte Zeit auszusetzen.

Die Pläne des syrischen Regimes

Während das Bombardement und der Artilleriebeschuss Russlands auf die Gebiete an der M4 südlich von Latakia weitergehen, dauern auch die Angriffe der Türkei auf Ain Issa an. Syrische Quellen weisen ebenfalls daraufhin, dass für diese Regionen das oben beschriebene Efrîn-Szenario vorbereitet werde.

Was bedeuten die Anschläge der Dschihadisten?

Während diese Entwicklungen in Ain Issa und Idlib stattfinden, kam es gleichzeitig zu einem Autobombenanschlag auf die neugebaute russische Basis bei Til Semen zwischen Ain Issa und Raqqa. Zu dem Anschlag bekannte sich die Dschihadistengruppe Hurras al-Din. Obwohl die Folgen des Angriffs nicht allzu schwerwiegend waren, ist die Täterschaft dieser Gruppe bemerkenswert. Hurras al-Din ist eben genau die Gruppe, welche die von Russland angegriffenen Gebiete nördlich von Latakia kontrolliert. Es handelt sich um eine radikalislamistische Gruppe, welche al-Qaida die Treue geschworen hat und der Nachfolgeorganisation von Jabhat al-Nusra, Hayat Tahrir al-Sham, Reformismus vorwirft.

Türkei baut nach Anschlag Präsenz in Idlib aus

Hurras al-Din war bereits zuvor in Idlib aufgefallen, als die Gruppe russisch-türkische Patrouillen ins Visier nahm. Kommentatoren interpretieren den aktuellen Angriff als eine Art Botschaft und spekulieren, das folgende größere Engagement der Türkei in Idlib stehe damit in Zusammenhang. So hat der türkische Staat damit begonnen, weitere Truppen in das von Hurras al-Din kontrollierte Gebiet südlich der Schnellstraße M4 in Idlib zu verlegen. Die türkische Armee begann, an bestimmten Stellen an der M4 südlich von Idlib Wachtürme zu errichten und Mitglieder von türkeinahen Milizen zu stationieren.

Was steht hinter den neuen Beobachtungstürmen?

Manche Kommentator*innen sehen in der Errichtung dieser Beobachtungstürme den Versuch, Russland dazu zu bewegen, die gemeinsamen Patrouillen wieder aufzunehmen, andere betrachten sie als Versuch, eine Grenze für eine mögliche Operation Russlands und des Regimes abzustecken. Aktuell befinden sich 23 der 70 Beobachtungsposten der Türkei südlich der M4. Die Zahl der türkischen Soldaten in der Region wird auf 20.000 angesetzt.

Provokationen des Regimes in Qamişlo

Das syrische Regime versucht, gleichzeitig in Qamişlo Auseinandersetzungen anzuzetteln. Besonders hervorgetan haben sich Difa al-Watani, die Paramilitärs des Regimes. Die Miliz verschleppte Zivilist*innen aus dem Watani-Krankenhaus und von der Flughafenkreuzung. Beide liegen in Gebieten in Qamişlo, die unter der Kontrolle des Regimes stehen. Zuvor war ein Mitglied der Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung in der Nähe eines vom Regime kontrollierten Viertel auf verdächtige Weise angegriffen worden.

Daraufhin nahmen die Kräfte der inneren Sicherheit einige Angehörige von Regimekräften und Mitglieder von Difa al-Watani fest. Russland versuchte in der vergangenen Woche vergeblich, die Spannungen zu reduzieren. Die von Russland in den ersten Tagen des Jahres 2021 kontrolliert initiierten Spannungen in der Region dürften in den kommenden Tagen weiter zunehmen.

Es ist allerdings unklar, inwiefern Russland diese Spannungen, durch die die eigenen Interessen an Stelle einer dauerhaften, verfassungsmäßigen Lösung durchgesetzt werden sollen, noch kontrollieren kann.