Renée Le Mignot: „Rojava-Modell als Wegweiser für Syriens Zukunft“

Nach dem Sturz des Assad-Regimes warnt die französische Menschenrechtsaktivistin Renée Le Mignot vor der drohenden Etablierung einer dschihadistischen Diktatur in Syrien. Als Alternative sieht sie das demokratische Modell von Rojava.

Einzigartig in der Region

Der Sturz des autoritären Assad-Regimes am 8. Dezember hat das Machtgefüge in Syrien tiefgreifend erschüttert. Doch der Weg zu Stabilität und Frieden bleibt unsicher. Inmitten dieser unklaren Lage hat die Gruppierung „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) unter der Führung von Ahmed al-Scharaa, auch bekannt als Abu Muhammad al-Dschaulani, die Macht in weiten Teilen des Landes übernommen.

Renée Le Mignot, Ko-Vorsitzende der französischen Bewegung gegen Rassismus und für die Freundschaft zwischen den Völkern, äußerte sich in einem Interview mit der Nachrichtenagentur ANF deutlich zur Lage in Syrien – und zur Bedeutung von Rojava als mögliches Modell für die Zukunft des Landes.

„Angriffe auf Rojava sind Kriegsverbrechen“

Le Mignot betonte, dass trotz des Sturzes des Assad-Regimes weiterhin schwere Verbrechen in Syrien begangen würden. Besonders hob sie die Angriffe des türkischen Militärs auf die Region Rojava hervor, die sie als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstuft: „Zivilist:innen – insbesondere Frauen und Kinder – werden gezielt angegriffen. Ganze Familien sterben. Gleichzeitig soll ein funktionierendes, soziales System zerstört werden. Diese systematische Gewalt zielt auf die Auslöschung einer Gesellschaft.“

Kritik an Europas Haltung zur Türkei

Die französische Aktivistin kritisierte zudem die Reaktion Europas auf das Vorgehen der Türkei. „Die EU hat sich durch die Flüchtlingsfrage erpressbar gemacht“, so Le Mignot, „anstatt Menschenrechte zu verteidigen, wird geschwiegen – aus Angst, die Türkei könnte Geflüchtete weiterziehen lassen. Das ist nicht nur politisch kurzsichtig, sondern auch moralisch verwerflich.“

In diesem Zusammenhang fordert Le Mignot auch eine Neubewertung der Haltung gegenüber der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK): „Ein belgisches Gericht stellte bereits fest, dass es sich im Konflikt zwischen der PKK und der Türkei um einen bewaffneten Konflikt handelt, bei dem die PKK die Genfer Konventionen einhält – im Gegensatz zum türkischen Staat. Die Einstufung der PKK als Terrororganisation ist unter diesen Umständen nicht länger haltbar.“

Rojava als Hoffnungsträger für Demokratie und Gleichberechtigung

Le Mignot sieht in der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) ein Modell mit wegweisendem Charakter für den gesamten Nahen Osten: „Es basiert auf Demokratie, Gleichberechtigung, kultureller Vielfalt und dem Schutz von Minderheiten. Besonders bemerkenswert ist die zentrale Rolle von Frauen in diesem System – sowohl politisch als auch militärisch. Das ist in dieser Region einzigartig.“

Neben dem Fokus auf Gleichstellung und Inklusion sei die DAANES auch ein soziales und ökologisches Projekt. Trotz der Bedrohungen durch äußere Mächte bleibe es ein Hoffnungsschimmer, so Le Mignot: „Es zeigt, dass ein anderes Syrien möglich ist.“

Ein neues Syrien braucht ein neues Modell

Abschließend warnt Le Mignot davor, dass mit der HTS eine neue religiöse Diktatur droht, die sich kaum vom alten Regime unterscheidet: „Ein System, das autoritäre Strukturen nur in anderem Gewand weiterführt, bietet keine Zukunft. Nur ein Syrien, das die Werte von Rojava aufgreift – Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Minderheitenschutz – kann dauerhaft Frieden bringen.“

Syrien seit dem Sturz Assads

Obwohl internationale Akteur:innen nach der Machtübernahme durch die HTS zunächst auf einen politischen Wandel hofften, wurden diese Erwartungen schnell von Berichten über schwere Menschenrechtsverletzungen erschüttert – insbesondere durch Massaker an der alawitischen Bevölkerung. In dem neu eingesetzten Präsidenten Al-Scharaa und seiner 23-köpfige Übergangsregierung sehen viele Syrer:innen ein autoritäres System, das weder inklusiv noch repräsentativ ist. Auch Vertreter:innen der internationalen Gemeinschaft zweifeln zunehmend daran, dass unter seiner Führung ein echter demokratischer Neuanfang möglich ist.

Der türkische Staat, einer der wichtigsten Unterstützer der HTS, setzt derweil seine militärischen Operationen in den Gebieten der DAANES fort. Dabei sind laut Bercihten diverser Menschenrechtsorganisationen insbesondere auch zivile Strukturen massiv betroffen.