Raqqa: Mehr als eine Million Menschen sind zurückgekehrt

In den fünf Jahren nach der Befreiung von Raqqa sind mehr als eine Million Menschen in die Stadt zurückgekehrt. Eine große Anzahl von Projekten, Kooperativen und Räten wurden aufgebaut.

Noch vor fünf Jahren war Raqqa zerstört. Der IS hatte die Stadt breit vermint und um jedes Haus seiner „Hauptstadt“ gekämpft. Den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) gelang es unter schweren Verlusten, Raqqa mit seinen Folterzentren, Märkten für versklavte Ezidinnen und Hinrichtungsstätten am 20. Oktober 2017 aus den Händen des IS-Terrors zu befreien. 166 Tage hatte die Offensive auf die Stadt gedauert.

Einer der ersten Schritte nach der Befreiung war der Aufbau des Zivilrats von Raqqa. Er koordinierte den Wiederaufbau der Stadt. Vor dem Wiederaufbau stand jedoch das Entfernen von Minenfeldern und Sprengfallen. Tausende Minen wurden entschärft und Stellungen des IS eingerissen, um neue Wege zu bauen.

Wiederaufbau zu 50 Prozent abgeschlossen


In der fast vollständig zerstörten und infrastrukturell schwer beschädigten Stadt baute der Zivilrat innerhalb von fünf Jahren die zerstörten Gebäude wieder auf und reparierte die beschädigten Häuser mit Hilfe der von ihm eingesetzten Komitees. Das Stadtzentrum und die ländlichen Gebiete wurden mit Elektrizität und Wasser versorgt. Nach Angaben von Saddam al-Ali, dem Ko-Vorsitzenden des Ausschusses für lokale Verwaltung und Gemeinden des Zivilrats von Reqqa, sind 50 Prozent der Dienstleistungen wie Wiederaufbau, Strom- und Wasserversorgung bereits abgeschlossen. Während des Wiederaufbaus des Infrastruktursystems wurden Unmengen an Schutt aus dem Stadtzentrum entfernt, die Straßen asphaltiert, gereinigt und ein Beleuchtungssystem installiert.

Raqqa-Brücke wieder errichtet

Al-Ali berichtete gegenüber der Nachrichtenagentur ANHA, dass die Raqqa-Brücke, die das Stadtzentrum mit dem südlichen Umland verbindet, wieder aufgebaut wurde. Außerdem seien 2022 neun Brücken in der Umgebung der Stadt gebaut worden, von denen einige über Bewässerungskanäle und Dämme führen, wodurch sich die Zahl der Brücken auf 16 erhöht hat.

Straßenbau schreitet voran

Insbesondere auch der Wiederaufbau der Straßen spielte eine wichtige Rolle und hat im Jahr 2022 große Fortschritte gemacht. So seien in der Stadt 8.000 Kubikmeter Asphalt und auf dem Land 10.000 Kubikmeter Asphalt für den Straßenbau eingesetzt worden. Das Straßenbauprogramm sei zu 75 Prozent abgeschlossen. 3.000 Anträge auf Reparatur und Neubauten seien bewilligt worden.

Restaurierungsarbeiten

Raqqa ist uralt. Die ersten Siedlungsreste sind in Tell Bia auf das Jahr 6.000 vor unserer Zeitrechnung zurückzuführen. Vom altbabylonischen Reich über den Hellenismus bis in die Spätantike war Raqqa unter verschiedenen Namen als Stadt bekannt. 639 wurde die Stadt von den muslimischen Heeren erobert und in ar-Raqqa umbenannt. Raqqa wurde zu einer Modellstadt islamischer Architektur umfunktioniert und galt mit seinen christlichen, islamischen und jüdischen Gebäuden als historischer Schatz verschiedener Konfessionen. Durch das Baath-Regime, aber vor allem auch durch den sogenannten Islamischen Staat und die Kämpfe zur Befreiung der Stadt, wurde jedoch der Großteil der historischen Bausubstanz zerstört. Mit beschränkten Mitteln konnte die Selbstverwaltung vier historische Orte vollständig und 13 weitere teilweise restaurieren. Der Ausschuss für religiöse Angelegenheiten restaurierte die Märtyrerkirche vor dem Al-Rashid-Park im Stadtzentrum und öffnete sie für Gottesdienste.

Rückkehr nach Raqqa

Im Zuge des Wiederaufbaus kehrten Hunderttausende Einwohner:innen in die Stadt zurück. Nach den Aufzeichnungen des Zivilrats hat die Zahl der Menschen, die innerhalb von fünf Jahren in die Stadt zurückgekehrt sind, 900.000 erreicht. Unter den Rückkehrer:innen befinden sich auch 25 christliche Familien. Zusätzlich zu den Rückkehrer:innen wird die Zahl der Binnenflüchtlinge in Raqqa auf 16.000 geschätzt, de facto dürfte sie aber weit höher sein.

Entwicklungen im ökonomischen Bereich


Eine der wichtigsten Arbeiten des Zivilrats von Raqqa war der Wiederaufbau der Landwirtschaft und Industrie. Raqqa war vor dem Krieg in diesem Rahmen von besonderer Bedeutung. Der Ko-Vorsitzende des Wirtschaftskomitees im Zivilrat von Raqqa, Raşad Kurdo, erklärte, dass zahlreiche Projekte durchgeführt wurden, darunter die Olivenölverarbeitungsanlage im Norden der Stadt, die Trocknungsanlage in der Stadt, die Baumwollfabrik, der Bau von sechs Trockenfrüchte- und Getreidelagern in den ländlichen Gebieten, die Futtermittelfabrik, eine Pechfabrik und eine Mühle.

Innerhalb von fünf Jahren wurden 380 Lizenzen zur Einrichtung von Industrieanlagen vergeben. Außerdem sei Öl verteilt worden, um die Arbeit in Fabriken und Industrieanlagen zu erleichtern. Kurdo stellte außerdem fest, dass 108 Brotbäckereien eröffnet wurden, um den täglichen Bedarf der Bevölkerung zu decken.

Entwicklungen im landwirtschaftlichen Sektor

Die Bewässerungslandwirtschaft nimmt Raqqa eine wichtige Rolle ein. Dazu gehören die Projekte al-Raid und al-Belih. Bei diesen handelt es um zwei der größten Bewässerungsprojekte in Nord- und Ostsyrien. Die Kommission für Landwirtschaft und Bewässerung nahm 24 völlig zerstörte Bewässerungspumpen wieder in Betrieb. Bewässerungslandwirtschaft wird in Raqqa auf 93.000 Hektar Land betrieben, während 190.000 Hektar Land mit Flusswasser und 140.000 Hektar Land mit Brunnenwasser bewirtschaftet werden.

Die Weizenernte wird im Jahr 2022 120.000 Tonnen einbringen, im vergangenen Jahr erbrachte die Baumwollernte 25.000 Tonnen und die Maisernte 75.000 Tonnen. Das „Unternehmen für die Entwicklung sozialer Landwirtschaft“ modernisierte eine Reistrocknungsanlage mit einer Kapazität von 1.800 Tonnen pro Tag. So soll auch der Reisanbau gefördert werden.

Wiederaufbau des Gesundheitssystems

Einer der wichtigsten Arbeitsbereiche der Zivilrats ist der Aufbau der Gesundheitsversorgung. Mit Unterstützung des Gesundheitsrates von Nord- und Ostsyrien wurden zerstörte Krankenhäuser und Gesundheitszentren wieder aufgebaut und in Betrieb genommen, während neue Krankenhäuser und Gesundheitszentren eröffnet wurden. Ein Entbindungs- und Kinderkrankenhaus, eine Klinik von Heyva Sor a Kurd und 30 Gesundheitszentren wurden im Stadtzentrum und auf dem Land eröffnet, es wurden Notfallteams, Krankenwagen, Pfleger:innen und Ärzte eingestellt.

Bildung und Lehre

Mit dem Wiederaufbau kehrten fast 140.000 Schüler:innen in die Schulen zurück, und etwa 6.000 Lehrer:innen und Verwaltungsangestellte wurden an 380 Schulen, darunter Grund-, Mittel- und Oberschulen, eingesetzt. Die Koordinierung der Universitäten in Nord- und Ostsyrien eröffnete außerdem in Raqqa die Sharq-Universität.

Mit der Arbeit des Zivilrats kehrte das Leben zurück“


Abduselam Hemsorik, Mitglied des Präsidiums des Zivilrats von Raqqa, erklärte, dass das Leben in der Stadt dank der Zusammenarbeit des Zivilrats und der Rückkehrer:innen wiederaufgebaut werden konnte, und sagte gegenüber ANHA: „In Nord- und Ostsyrien besteht eine einzigartige Situation, in der die Samen der Demokratie und des gemeinsamen Lebens für alle Regionen des Nahen Ostens gesät werden.“

Aufbau der demokratischen Nation

Eine der wichtigsten Entwicklungen in der Stadt findet im politischen Bereich statt. Während die Verwaltung der Stadt aus allen Komponenten der Bevölkerung basisdemokratisch zusammengesetzt ist und sich auf die Organisierung des pluralistischen Zusammenlebens fokussiert, arbeiten politische Parteien und verschiedene Nichtregierungsorganisationen an der Umsetzung des Projekts der demokratischen Nation.


Zilîxa Ebdî, Mitglied der Generalversammlung der „Zukunftspartei“ erklärt, dass es in Raqqa ein sehr großes Interesse an der Umsetzung des Projektes der demokratischen Nation gebe. Das sei das Ergebnis der Zusammenarbeit verschiedener Identitäten, Kulturen und Weltanschauungen in Raqqa.

Der Begriff der demokratischen Nation wird vom Vordenker der Revolution in Nordostsyrien, Abdullah Öcalan, wie folgt definiert: „Demokratische Nation bedeutet, dass das Volk sich selbst als Nation konstituiert, ohne sich dabei auf Macht und Staat zu stützen, also eine Nationwerdung, die durch die dafür nötige Politisierung erfolgt. Es geht um den Nachweis, dass es möglich ist, sich durch autonome Institutionen in den Bereichen Selbstverteidigung, Wirtschaft, Recht, Gesellschaft, Diplomatie und Kultur zur Nation zu entwickeln und sich als demokratische Nation zu konstituieren, ohne zum Staat zu werden und ohne die Macht zu ergreifen. Die demokratische Gesellschaft lässt sich nur durch ein solches Modell von Nation verwirklichen.“ Genau dafür scheint das Bevölkerungsmosaik von Raqqa praktisch prädestiniert zu sein.