Trotz Embargos und Pandemie haben die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und der Demokratische Syrienrat (MSD) ihre diplomatischen Arbeiten im Jahr 2021 sogar noch ausgeweitet. Abdulkarim Omar, der Ko-Vorsitzende des Büros für Außenbeziehungen der Selbstverwaltung, beschreibt im ANF-Gespräch die Entwicklungen in der Diplomatie im Jahr 2021 und ihre Perspektiven für 2022.
Im Gegensatz zu staatlichen Formen der Diplomatie steht für die Selbstverwaltung die gesellschaftliche Diplomatie im Mittelpunkt. Dies galt auch für das Jahr 2021. Omar führt aus: „Unsere Diplomatie auf gesellschaftlicher Ebene wie auch auf Ministerebene drehte sich um die Anerkennung der Selbstverwaltung. Darüber hinaus übermittelten wir in den Gesprächen Informationen über die politische und wirtschaftliche Lage sowie die türkische Besatzung und die Bedrohung durch die Türkei. Die Schließung von Til Koçer [ar. Al-Yarubiyah] und anderer Grenzübergänge aufgrund eines russischen und chinesischen Vetos betrifft etwa fünf Millionen Menschen. Insbesondere der Mangel an humanitärer Hilfe für die jahrelang vom ‚Islamischen Staat‘ besetzten Gebiete hat der Terrororganisation die Chance gegeben, sich neu zu organisieren. Wir haben darauf bestanden, dass das syrische Problem nicht durch die Gespräche der Verfassungskommission in Genf gelöst werden kann, wo wir weder als Kurden noch als Völker Nordostsyriens einbezogen werden. Dreißig Prozent Syriens und seine Interessen werden dort nicht vertreten. Wir haben aber auch die Situation der IS-Leute, die derzeit bei uns inhaftiert sind, und die tausenden Frauen und Kinder von IS-Männern in den Lagern angesprochen. Wenn es im Camp Hol so weitergeht, könnten wir bald vor einer humanitären Krise stehen. Die Auswirkungen werden auf uns und die gesamte internationale Gemeinschaft zurückfallen. All dies haben wir unseren Gesprächspartnern mitgeteilt und uns um Lösungen bemüht.“
„Wir haben versucht, die Hindernisse zu überwinden“
Insbesondere das Embargo habe die diplomatische Arbeit behindert, sagt Omar und fährt fort: „Die Schließung der Grenzübergänge nach Nord- und Ostsyrien führte zu einem Embargo. Insbesondere die Schließung des Grenzübergangs Sêmalka-Pêşxabûr durch die südkurdische Regierung führt zu einer ganzen Reihe von Hindernissen. Die Pandemie und die Einstellung des Reiseverkehrs weltweit waren ebenfalls hinderlich. Wir konnten oft nicht das Land verlassen, um diplomatische Gespräche zu führen. Es gibt noch weitere künstliche Hindernisse für Gespräche mit arabischen Ländern. Es besteht eine Antipropaganda, die die Selbstverwaltung als rein kurdische Herrschaft diffamiert und suggeriert, dass wir Syrien zerschlagen wollten. Aufgrund des Einflusses des türkischen Staates konnten die erwarteten Gespräche bisher nicht geführt werden.“
„Prozess der de facto Anerkennung hat begonnen“
Omar weist auf die Bedeutung der Anerkennung der Selbstverwaltung durch Katalonien hin und sagt, der Prozess einer faktischen Anerkennung durch eine ganze Reihe von Staaten habe bereits begonnen. Omar erinnert daran, dass in den Jahren 2015 und 2016 keine Gespräche mit Außenminister:innen oder ihren Stellvertreter:innen möglich waren, dies inzwischen jedoch nichts Ungewöhnliches mehr sei. „Jetzt stehen uns die Türen der Außenministerien aller europäischen Länder offen“, so Omar. „Es finden Gespräche auf der Ebene der Außenminister und ihrer Stellvertreter statt. Allerdings ist es nicht möglich, den Status anzuerkennen, ohne die Selbstverwaltung in die Verfassungsgespräche einzubeziehen. Eine offizielle Anerkennung ist ohne eine solche Einbeziehung eher schwierig.“
Vertretungen in mehreren Ländern eröffnet
Omar verweist darauf, dass die erste Vertretung der Selbstverwaltung in Silêmanî eröffnet wurde: „Wir haben jetzt eine Repräsentanz in Moskau und eine Vertretung in Stockholm für die vier skandinavischen Länder, für die Niederlande, Belgien und Luxemburg haben wir eine Vertretung in Brüssel, wir haben in Paris und in Berlin Vertretungen eröffnet. Dieses Jahr haben wir außerdem eine Vertretung in der Schweiz eingerichtet. In Zukunft werden wir uns weiterhin bemühen, Vertretungen an wichtigen Orten zu öffnen. So beabsichtigen wir, 2022 eine Repräsentanz in London, England, zu eröffnen.“
„Wir meinen es ernst mit einer Lösung für Syrien“
Omar weiter: „Wir werden eine Lösung mit Damaskus entwickeln. Wir meinen es ernst mit der Lösung. Die Delegationen von Genf und Astana sollten hinterfragt werden.“ Omar weist auf die Rolle der USA und Russlands in Syrien hin und kritisiert ihr Schweigen in Bezug auf die permanenten Angriffe der Türkei mit Artillerie und bewaffneten Drohnen. Offenbar ließen die USA und Russland keine große türkische Invasion zu, aber unterstützten diese neue Form der Aggression.
„Bedrohung durch den IS dauert an“
Omar warnt, dass zwar die Besatzung der Region durch den IS beendet sei, dieser jedoch weiter von den Gebieten unter Regimekontrolle oder den von der Türkei besetzten Gebieten aus agiere. Er führt aus: „Die IS-Ideologie existiert immer noch in Gebieten, die seit Jahren unter IS-Kontrolle standen und sich selbst kein neues Leben einhauchen können. Es gibt mehre Faktoren, welche den Terror begünstigen: Das internationale Schweigen und die Schließung des Grenzübergangs Til Koçer und das Embargo der Region und der Mangel an Hilfe, die Drohungen des türkischen Staates und seine Drohnenangriffe, die Unterbrechung des Wasserzuflusses des Euphrat und die Versuche, die Stabilität der Region durch die Schaffung einer ökonomischen Krise zu stören, sowie die Situation der Tausenden von IS-Mitgliedern in Gefängnissen und Lagern."
Omar fordert in Hinsicht auf die IS-Gefangenen: „Die internationale Gemeinschaft sollte uns dabei unterstützen. Weder wollen sie die IS-Leute, die aus ihren Ländern kommen, zurück, noch wollen sie, dass wir sie hier vor Gericht stellen. Wie wird das enden?“
Die besetzten Gebiete
Zu den Verschleppungen, extralegalen Hinrichtungen, Vertreibungen und Plünderungen in den türkisch besetzten Gebieten sagt Omar: „Es werden spezielle Dossiers zu den Rechtsverletzungen in den besetzten Gebieten und zu den Binnenflüchtlingen vorbereitet. Unsere Delegationen übergeben diese Dossiers. Für uns hat das, was in den besetzten Gebieten passiert, eine Priorität in der Diplomatie. Wir arbeiten für die Rückkehr der Binnenflüchtlinge.“
Voller Hoffnung ins Jahr 2022
Omer stellt fest, dass trotz des Embargos und der Pandemie die diplomatischen Bemühungen der Autonomieverwaltung und des MSD nicht aufgehört haben, und sagt: „In diesem Jahr werden wir mehr auf gesellschaftliche Diplomatie setzen. Wir werden mehr tun, um den Dialog mit den Ländern des Nahen Ostens zu entwickeln. Wir gehen mit großen Hoffnungen in dieses Jahr."