Nûrî Mehmûd: „Unser Widerstand wird über das Ergebnis entscheiden“

Der YPG-Sprecher Nûrî Mehmûd sagt, die Verteidigungskräfte nähmen die Drohungen Erdoğans sehr ernst: „Aber unser Widerstand wird bestimmen, wie erfolgreich Erdoğan sein wird. Dieses Mal wird es sicher nicht so sein wie in Efrîn, Serêkaniyê oder Girê Spî.“

Der türkische Regimechef Erdoğan hat die vollständige Besetzung eines 30 Kilometer breiten Streifens entlang der türkisch-syrischen Staatsgrenze zwischen Rojava und Nordkurdistan angekündigt. Damit würde ein Großteil der Städte von Rojava unter die Besatzung der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten geraten. In einem Interview in der Zeitung Yeni Özgür Politika klärt YPG-Sprecher Nûrî Mehmûd über die Hintergründe des Krieges und die Entwicklungen in der Region auf.

Erdoğan droht offen mit einer neuen Invasion. Wie sehen Sie die militärischen Vorbereitungen der Türkei? Wie wahrscheinlich ist es, dass tatsächlich ein neuer Angriff bevorsteht?

Erdoğan will nicht nur einen 30 Kilometer breiten Streifen besetzen. Sein eigentliches Ziel sind die historischen Grenzen des osmanischen Nationalpakts. Dann wird er versuchen, das Osmanische Reich der Vergangenheit als Erdoğan-Reich neu zu beleben. Die Besetzung des 30-Kilometer-Streifens in Nordsyrien kann als erster Schritt zur Umsetzung dieser Träume angesehen werden. Das eigentliche Ziel der türkischen Zusammenarbeit mit dem IS und anderen Terrororganisationen war es, die Grenzen des Nationalpakts zu erreichen. Erdoğans Plan scheiterte am Widerstand der Revolution von Rojava.

Der wichtigste Grund, warum Erdoğan einen neuen Invasionsversuch im Nordosten Syriens unternimmt, ist die innenpolitische Sackgasse, in die die AKP/MHP-Regierung in der Türkei geraten ist. Die Türkei erlebt unter Erdoğans Regierung eine große wirtschaftliche, politische und diplomatische Krise. Die Korruption grassiert. Daher hat das Erdoğan-Regime Schwierigkeiten, die innenpolitischen Probleme zu bewältigen. Wegen all dem versucht die Regierung einen Ausnahmezustand zu schaffen und äußeren Krisen neues Leben einzuhauchen, um innenpolitisch weitermachen zu können. Mit anderen Worten, das Land muss in einen Kriegszustand versetzt werden, damit nicht die inneren Krisen und Probleme in den Fokus rücken. Erdoğan glaubt, dass der Weg, alle zum Schweigen zu bringen, die ihre Stimme zu erheben versuchen, über Krieg und Ausnahmezustand verläuft. Sein Hauptziel ist es, das eigene Regime mit seinen selbst kreierten Krisen auf die Wahlen vorzubereiten.

Wir nehmen die Drohungen sehr ernst, weil wir wissen, dass Erdoğan keine andere Wahl bleibt, als Krieg zu führen. Aber darüber, wie erfolgreich Erdoğan sein wird, wird unser Widerstand entscheiden. Wir haben im Krieg um Rojava, in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî, wichtige Erfahrungen gemacht. Dieses Mal wird es mit Sicherheit ganz anders laufen als dort.

Die Drohungen Erdoğans sind Teil eines Plans. Gleichzeitig zu den Drohungen hat der IS seine Aktivitäten ausgeweitet. Die Angriffe nahmen zu. Insbesondere im Hol-Camp gibt es eine massive Mobilisierung. Hier wird versucht, Chaos zu stiften und den IS wiederzubeleben. Die Türkei und der IS arbeiten parallel. Während Erdoğan abweichende Stimmen in der Türkei mit Drohungen und Angriffsversuchen zum Schweigen bringen will, wird gleichzeitig versucht, eine Rechtfertigung für eine Invasion zu schaffen, indem der IS aktiviert wird.

Erdoğan versucht sich auf internationaler Ebene durchzusetzen, indem er die Gelegenheiten im Rahmen des Ukraine-Russland-Konflikts und der antiiranischen Haltung der internationalen Gemeinschaft als NATO-Mitglied benutzt. Mit der Stärke, die er aus dieser Position bezieht, greift er die Errungenschaften des kurdischen Volkes an und will die Revolution von Rojava und das Zusammenleben, das die Völker in Nord- und Ostsyrien geschaffen haben, liquidieren. Es ist aber auch notwendig, die folgende Tatsache zu betonen: Die Türkei hat nicht mehr die Macht, die sie früher hatte. Sie will trotzdem ihre Ziele erreichen, indem sie Europa und die NATO hinter sich zu bringen versucht.

Was sind Ihre Vorbereitungen gegenüber einem möglichen türkischen Angriff?

Wenn wir Nord- und Ostsyrien nur als QSD (Demokratische Kräfte Syriens) und deren Rückgrat YPG, YPJ und die Antiterroreinheiten betrachten, begehen wir einen Trugschluss. Rojava bereitet sich darauf vor, seine Errungenschaften mit all seinen Institutionen zu verteidigen. Wir sind in dieser Hinsicht sehr ehrgeizig. Rojava teilt allen Seiten mit, dass es sich mit allen Institutionen gegen die Angriffe der Türkei stellen wird. Die Moral, Motivation und Entschlossenheit, Rojava selbst zu verteidigen, befinden sich sowohl in den militärischen Einheiten als auch in allen unseren Institutionen und in der gesamten Bevölkerung auf höchstem Niveau. Wir wollen erklären, dass wir jedem Angriff auf unsere Errungenschaften bis zum Ende widerstehen werden. Dazu haben wir die Kraft.

Wenn wir uns die Landkarte anschauen, die Erdoğan präsentiert hat, scheint es so zu sein, dass der erste Angriff Kobanê, Minbic, Ain Issa, Til Temir und Dirbêsiyê betreffen wird. Was werden Sie gegen eine solche Invasion unternehmen?

Die Regionen, von denen Sie sprechen, sind die Regionen, in denen der Widerstand am intensivsten ist und in denen die Saat der Rojava-Revolution gelegt wurde. Die Revolution von Rojava ist in Form von drei Kantonen auf der Grundlage des Paradigmas des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan in diesen Regionen entstanden. Aus dieser Revolution hat sich die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien entwickelt. Natürlich ist der wichtigste Grund für Erdoğans Versuch, die von Ihnen erwähnten Orte zu besetzen, dass diese Orte kurdisch sind. Das Ziel ist es, die kurdischen Gebiete zu erobern und die demografische Zusammensetzung der Region zu verändern, indem Massaker an der Bevölkerung begangen und die Gebiete mit Loyalisten besiedelt werden. Das Zusammenleben der Völker, das sich im Norden und Osten Syriens entwickelt, die Entwicklung von Demokratie und Säkularismus und eines Selbstverständnisses, das alle Völker kulturell und sozial integriert, werden von Erdoğan abgelehnt. Nachdem er diese Entwicklungen vernichtet hat, wird er seine dschihadistischen und faschistischen Ziele zu erreichen versuchen.

Als YPG haben wir unsere Einheiten zurückgezogen, damit es keinen Krieg gibt. Wir halten sie jedoch in ständiger Bereitschaft gegen mögliche Angriffe. Im Falle eines Angriffs gibt es Pläne, an die Orte zurückzukehren, von denen wir uns zurückgezogen haben. In der Vergangenheit sind Vereinbarungen getroffen worden, um Zusammenstöße zu verhindern. Aber die Türkei hält sich nicht an diese Abkommen. Sie verstößt dagegen, indem sie die Region mehrmals täglich mit Artillerie beschießt. Jeden Tag werden Menschen von durch die NATO entwickelte Drohnen bombardiert. Die Türkei macht dabei keinen Unterschied zwischen militärischen Kräften und der Zivilbevölkerung, auch Kinder werden getötet. Die Angriffe der Türkei haben dieses Abkommen de facto ausgeschaltet.

Wenn die Angriffe so weitergehen, wird die erzielte Vereinbarung vollständig aufgehoben werden. Unsere Einheiten, die sich zurückgezogen haben, um keine Konflikte zu verursachen, werden in alle Stellungen zurückkehren. Wir haben bereits entsprechende Vorbereitungen getroffen. Unser Ziel ist es, unsere Aufgaben für den Schutz der Revolution ohne Zögern zu erfüllen.

Kann die Türkei gegen dem Widerstand der internationalen Koalition, der USA und Russlands eine Invasion versuchen?

Ohne die Erlaubnis der Kräfte, die Sie eben erwähnt haben, wäre das nicht möglich. Erdoğan hat nicht die Kraft dazu. Das türkische Heer ist auch nicht mehr so stark wie früher. Die Türkei könnte keinen Krieg auf diesem Niveau führen, wäre sie nicht NATO-Mitglied. Die türkische Armee befindet sich am Rande des Zerfalls und ist ohnehin zum Großteil in der Hand von Privatunternehmen. Es handelt sich bei allen um Berufssoldaten. Bevor sie beim Militär aufgenommen werden, unterzeichnen sie besondere Vereinbarungen, dass ihr Tod nicht öffentlich gemacht wird. Viele Soldaten sterben, aber es wird dazu keine Erklärung abgegeben. Mit anderen Worten, ein solcher Angriff der Türkei wäre nicht möglich ohne die Unterstützung und Erlaubnis der internationalen Mächte. Wenn ein Angriff der Türkei stattfindet, dann wird er nur mit der offenen oder verdeckten Unterstützung internationaler Mächte durchgeführt werden. Soweit wir es beurteilen können, scheinen die internationalen Mächte in der Region gegen einen solchen Angriff der Türkei zu sein.

Haben Sie mit den USA, Russland und der internationalen Koalition über einen möglichen Angriff der Türkei gesprochen?

Wir stehen im täglichen Austausch mit diesen Kräften. Nach den Erfahrungen von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî verlassen wir uns jedoch auf unsere eigene Kraft und nicht auf die internationalen Mächte. Wir haben Treffen, auf denen die Möglichkeit eines türkischen Angriffs diskutiert wird. Aber wie gesagt, trotz allem treffen wir unsere eigenen Vorkehrungen. Die USA und Russland sind die Garanten des Abkommens mit der Türkei. Natürlich möchten wir hier unterstreichen, dass sie die ihnen zufallende Verantwortung und Pflicht als Garantiemächte erfüllen müssen.

Gibt es Ansätze, Sie daran zu hindern, die von der internationalen Koalition für den Kampf gegen den IS bereitgestellten schweren Waffen in diesem Krieg einzusetzen?

Nein, so etwas gibt es nicht. Die von der internationalen Koalition gelieferten Waffen sind außerdem keine schweren Waffen, sondern Einzelwaffen. Diese Waffen haben sowieso nur für den Kampf gegen den IS ausgereicht. Deshalb sind alle Waffen, die wir haben, Waffen, die unser Volk uns durch seine Arbeit zur Verfügung gestellt hat. Wir verteidigen uns mit unseren eigenen Waffen. Wenn nötig, setzen wir sie gegen den IS ein, und notwendigenfalls werden wir sie auch gegen eine Invasion benutzen.

Der Angriff wird immer wieder kommentiert als Teil einer umfassenden Strategie, die sich gegen Südkurdistan, Nordkurdistan und Nordostsyrien richtet. Wird es im Falle eines solchen Angriffs möglich sein, dass alle widerständigen Kräfte Kurdistans gemeinsam agieren?

Die Kultur der Solidarität existiert in allen vier Teilen Kurdistans. In der kurdischen Kultur ist es üblich, Geschwistern oder Freundinnen und Freunden in Notsituationen beizustehen. Die YPG haben zuvor am Kampf gegen IS in Şengal zum Schutz der ezidischen Bevölkerung teilgenommen. Wir sahen es als unsere Pflicht an, die ezidische Gemeinschaft zu schützen. Zweifellos sollten alle kurdischen Kräfte in diesem Rahmen handeln. Das faschistische, dschihadistische Regime unter Erdoğan sieht in den vier Teilen Kurdistans ein Hindernis für seine Ziele. In diesem Sinne ist die kurdische Einheit von größter Bedeutung und es ist wichtig, dass sich die Kurdinnen und Kurden hinter einem Ziel versammeln. Das größte Beispiel ist folgendes: Als der IS Rojava angriff, kamen aus ganz Kurdistan junge Frauen und Männer und beteiligten sich am Kampf gegen den Terror. An diesem Beispiel sehen wir die Einheit des kurdischen Volkes ganz deutlich.

Außer leider der PDK handeln alle Kurdinnen und Kurden und ihre Parteien mit dem gleichen Gefühl. Sie haben sich um dasselbe Ziel zusammengeschlossen und eine Einheit geschaffen. Die PDK sieht sich außerhalb dieser Einheit. Soweit wir jedoch beobachten, stört die Menschen in allen vier Teilen Kurdistans die Tatsache, dass sich die PDK an die Seite des türkischen Staates stellt. Sie möchten, dass sie umgehend auf den Kurs der kurdischen Einheit umschwenkt. Wir teilen ebenfalls diesen Wunsch.

Wie werden Sie sich bei einem Angriff auf Şehba verhalten? Gibt es Bestrebungen, gemeinsam mit dem syrischen Regime Widerstand zu leisten?

Nein, in Şehba haben wir keine solchen Erwartungen. Die Menschen, die aus Efrîn vertrieben wurden, leben in Şehba. Dort organisieren sich unsere Kräfte und bereiten sich vor. Leider stellen wir fest, dass es dort viele Netzwerke von Geheimdiensten gibt. Wie bei der Revolution in Rojava und Nord- und Ostsyrien setzt unser Volk keine große Hoffnung darauf, dass sich äußere Mächte gegen die Angriffe der Türkei stellen würden. Die Menschen vertrauen vor allem auf ihre eigene Kraft. Wir glauben nicht, dass uns irgendeine andere Kraft schützen wird. Wir werden uns selbst verteidigen. Die Völker in Syrien, dem Nahen Osten, in Europa, den USA und auf der ganzen Welt haben gesehen, wie wir Widerstand gegen den IS-Terror geleistet haben. Wir wissen ganz genau, dass die Völker der Welt an unserer Seite stehen, auch wenn die Staaten aufgrund ihrer Eigeninteressen oder ihrer Politik uns keine Unterstützung zukommen lassen. Ihre Herzen schlagen mit den unseren.

Was ist Ihr Appell in Bezug auf die der Invasion an die Kräfte in Südkurdistan?

Wir erwarten, dass die Parteien in den vier Teilen Kurdistans sehen, dass wir einen sehr wichtigen Prozess durchlaufen und sie die Pflicht haben, dafür zu sorgen, dass wir daraus nicht mit einer Niederlage und Verlusten hervorgehen. Alle Kurdinnen und Kurden tragen die Verantwortung, die Schritte zu unterstützen, welche das kurdische Volk in die Freiheit führen. Mit anderen Worten, wir sind abgesehen von der PDK mit der Haltung aller Menschen in Südkurdistan zufrieden. Nur die PDK stellt sich auf die Seite der Türkei oder schweigt zu den Verbrechen des türkischen Staates. Abgesehen von der PDK scheinen alle Parteien vereint zu sein. Auch wenn sie in den aktuellen Geschehnissen nicht die großartige Haltung eingenommen haben, die notwendig gewesen wäre, sind wir mit ihrer Einheit generell zufrieden.

Welche Pflichten haben die Menschen in den vier Teilen Kurdistans gegen die Invasion der Türkei? Möchten Sie auch einen Aufruf an unser Volk in der Diaspora richten?

Ohne Zweifel durchlaufen wir einen sehr wichtigen Prozess. In diesem werden wir große Erfolge erringen. Das kurdische Volk sollte sich im Geiste der Einheit und des Aufstands, den es im Widerstand von Kobanê errungen hat, gegen einen solchen möglichen Angriff stellen. Es geht für das kurdische Volk um Sein oder Nichtsein. So große Errungenschaften wir in dieser Phase erringen können, so sehr besteht auch die Gefahr, alles zu verlieren. Der türkische Staat will die Existenz des kurdischen Volkes zerstören und seine Identität vernichten. Wo auch immer sich Kurdinnen und Kurden auf der Welt befinden, sie sollten sich in der kurdischen Revolution organisieren. Wir erwarten von ihnen, dass sie ihren Protest in dem rechtlichen Rahmen, in dem sie jeweils leben, deutlich machen und sich in Solidarität mit der Revolution Kurdistans und der Revolution von Rojava zusammenschließen.