„Nicht alles verläuft nach Erdoğans Wünschen“
„Nicht alles verläuft nach Erdoğans Wünschen“, erklärt der kurdische Politiker Aldar Xelîl (TEV-DEM) zu den Verhandlungen über die Einrichtung einer „Sicherheitszone“ in Nordsyrien.
„Nicht alles verläuft nach Erdoğans Wünschen“, erklärt der kurdische Politiker Aldar Xelîl (TEV-DEM) zu den Verhandlungen über die Einrichtung einer „Sicherheitszone“ in Nordsyrien.
Die Türkei zeigt sich auf höchster Ebene entschlossen, eine Offensive in den selbstverwalteten Gebieten Nord- und Ostsyriens zu starten. Diskussionen um eine sogenannte Sicherheitszone, Gespräche der USA mit der türkischen Regierung und der nordostsyrischen Autonomieverwaltung und das Treffen einer Abordnung des US-Militärs in Ankara – der politische Verkehr ist fast schon schwindelerregend. Während alle Augen auf die Region gerichtet sind, haben wir mit Aldar Xelîl aus dem Exekutivrat der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) über die möglichen Konsequenzen einer Offensive in Rojava, die dadurch entstehenden Sicherheitsrisiken und die Haltung der USA und Russlands gesprochen.
Die Politik, die Sie seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien verfolgen, hat die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es sticht der Aufbau eines Systems hervor, das einzigartig für den Mittleren Osten ist. Trotz Ihrer positiven Wirkung werden Sie dennoch zur Zielscheibe. Warum?
Seit Ausbruch der Syrienkrise war unser Hauptziel die Frage zu klären, wie wir ein demokratisches Syrien aufbauen können. Unser Kampf verlief auf zwei Achsen: Die Anerkennung der Rechte und Identität des kurdischen Volkes, und demokratische Strukturen in einer Koexistenz aller religiösen und ethnischen Gruppen.
Infolge dieses seit acht Jahren andauernden Kampfes wurden einige bedeutende Erfolge erzielt. Eine demokratische Verwaltung wurde ausgerufen, Institutionen wurden gebildet und wichtige Schritte zur Lösung der Krise unternommen. Auf der anderen Seite wurde die militärische Stärke einer Struktur, wie sie der ‚Islamische Staat‘ ist – ein Übel für die gesamte Menschheit – weitestgehend gebrochen, seine Territorialherrschaft wurde beendet. Während all das geschah, wurden wir ununterbrochen ins Visier der Erdoğan-Regierung genommen. Der türkische Präsident ist nicht an einer Lösung der Syrienkrise interessiert, daher möchte er auch nicht, dass sich ein demokratisches System entwickelt. Efrîn zum Beispiel galt als sicherer Hafen in Syrien. Dort haben während des Bürgerkrieges Zehntausende Binnenflüchtlinge eine sichere Unterkunft und Versorgung gefunden, aber die Region wurde angegriffen und besetzt. Das genügt Erdoğan aber nicht, jetzt will er die gesamte Region östlich des Euphrats besetzen. Er sagt ja auch, dass er die Autonomieregion Kurdistan besetzen will. Sein Ziel ist nicht lediglich eine Region, Organisation oder Struktur. Erdoğan geht es darum, seine neoosmanischen Träume zu verwirklichen. Mit seinem politischen Islam will er sich als Macht im Mittleren Osten behaupten. Aber so einfach ist das nicht. Im Zusammenhang mit den Angriffen auf uns dürfen wir nicht vergessen, dass diese Region innerhalb der Grenzen Syriens und nicht in der Türkei liegt. In den letzten Tagen allerdings wurde der Ton Erdoğans immer schärfer.
Warum wurde Erdoğans Ton schärfer?
Es gibt viele Gründe dafür, aber an erster Stelle können wir auflisten: Erdoğan steht wegen der Niederlage bei den kürzlich stattgefundenen Kommunalwahlen unter Druck, sein Ansehen wurde erschüttert. Zweitens ist seine Partei zutiefst gespalten, außerdem bereiten sich einige seiner ehemaligen Mitstreiter auf die Gründung einer neuen Partei vor. Drittens: Sein Bündnis mit der MHP wackelt, viertens gibt es enorme wirtschaftliche Probleme. Die Lage ist so schlecht wie seit Jahren nicht. Und fünftens: Einige wichtige Abkommen mit Russland, die während der Efrîn-Invasion getroffen wurden, bringen Erdoğan jetzt in Bedrängnis. Wenn wir all dies zusammen betrachten, wird klar, dass Erdoğan eine neue Agenda braucht.
Von welchen Abkommen mit Russland reden Sie?
In der Region gibt es zwei Hauptakteure: Die USA und Russland. Beide Kräfte haben Verbündete in Syrien. Russland versucht, die USA und ihre Allianzen zu schwächen und ihren Einfluss zu verringern. Die Türkei ist als schwächstes Glied in der Kette erkannt worden. Sie ist Mitglied der NATO und eine der wesentlichen Mächte, auf die sich die USA in der Region stützen. Im Gegenzug war die NATO jahrelang die größte Unterstützerin für die Türkei im Krieg gegen die Kurden. Die Kurden sind mit NATO-Waffen bekämpft worden. Russland versucht jetzt, die Beziehungen zwischen der Türkei und der NATO bzw. den USA zu zerstören. Im Efrîn-Krieg hat Russland der Türkei die Genehmigung erteilt und im Gegenzug etwas verlangt. Ost-Ghouta sollte evakuiert werden. Die dortigen bewaffneten Gruppen haben die größte Unterstützung aus der Türkei erhalten. Sogar ihre politischen Entscheidungen wurden in der Türkei getroffen.
Darüber hinaus hat Russland die Anerkennung des Assad-Regimes von der Türkei verlangt und damit Erfolg gehabt. Momentan gibt es Kontakte zwischen der Türkei und Syrien, die allerdings heimlich verlaufen. Die Türkei hat Russland viele Versprechungen gemacht, von denen sie selbst auch profitiert. Stichpunkte sind die russischen Gasleitungen, die anstatt über die Ukraine über die Türkei nach Europa reichen, der Kauf des Raketensystems S-400 und weitere Handelsbeziehungen.
Die Türkei besteht im Rahmen ihrer geplanten Offensive gegen Nord- und Ostsyrien auf der Einrichtung einer „Sicherheitszone”. Es ist allerdings die Rede von zwei verschiedenen Entwürfen für eine solche Zone – einer von den USA und der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens, der andere von der Türkei. Wie sehen diese beiden Pläne aus?
Ich denke nicht, dass es den USA darum geht, was für uns oder die Türkei dabei herauskommt. Vielmehr interessieren sich die USA für die Allianzen der Türkei, die ihr schaden. In Dscharablus, Efrîn und Idlib, aber auch anderswo wurden Abkommen getroffen, die ungünstig für die Pläne der USA waren. Russland hingegen rechnete damit, dass die USA die Region verlassen würden und brachte immer wieder zur Sprache, dass das syrische Regime die Kontrolle über Nord- und Ostsyrien übernehmen sollte. Doch mit der Entscheidung Donald Trumps, die in Syrien stationierten US-Soldaten doch nicht abzuziehen, wurde klar, dass das Regime nicht zurückkehren wird. Die Türkei wird gegen die Region aufgebracht, um die Pläne der USA scheitern zu lassen.
Da Erdoğan von sich glaubt, ein neuzeitlicher Sultan zu sein, will er sich als einziger Akteur der gesamten Region behaupten. Er hat tatsächlich angefangen zu glauben, die Grenzen der Türkei entsprechend des Nationalpakts Misak-i Milli [Territorium des zerfallenen Osmanischen Reichs, Anm. d. Red.] ausweiten zu können. Die USA haben das erkannt und sind mit dem Wunsch an uns herangetreten, eine Lösung zu finden. Aber seien wir doch ehrlich: Ein paar Ansagen hätten genügt, um die Türkei zum Schweigen zu bringen. Die USA haben die Kraft dazu. Im Moment geht es darum, ein Gleichgewicht zwischen uns und der Türkei zu erreichen.
Das haben die USA gesagt?
Ja, das ist richtig. Die USA bringen deutlich zum Ausdruck, dass sie an einer Lösung arbeiten und Konflikte zwischen uns und der Türkei vermeiden sowie verhindern wollen, dass erneut ein großes Chaos über die Region hereinbricht. Diese Punkte waren auch ausschlaggebend für den Besuch des US-Sondergesandten für Syrien, James Jeffrey, in der Türkei.
Die türkische Regierung strebt nach einer Pufferzone auf einem Gebiet, das etwa 33 Kilometer weit reichen soll. Ihr Entwurf bietet eine Überwachung der Grenze in einer fünf Kilometer breiten Zone an. Gibt es nähere Details?
Das stimmt so weit. Geht es nach der türkischen Regierung, soll die Sicherheitszone 30 bis 40 Kilometer breit sein und sich die gesamte Grenzlinie entlangziehen. Außerdem fordert Ankara, dass sich die Autonomieverwaltung aus dem Gebiet zurückzieht. So etwas nennt man nicht „Sicherheitszone“, sondern eine Zone der Unsicherheit oder Besatzung. Erdoğan signalisiert doch, was er möchte, indem er sagt, er wolle in das Gebiet östlich des Euphrats gehen. So wie bereits in Efrîn will er dort seine Milizen stationieren.
Er behauptet aber auch, die syrischen Flüchtlinge in der Türkei dort anzusiedeln.
Nein, das ist nur leere Propaganda. Die Syrer in der Türkei können jederzeit zurückkehren, was könnten wir denn schon sagen? Sie sind das syrische Volk und haben selbstverständlich das Recht, hier zu leben.
Sie sind also offen dafür?
Wir sagen immer, dass Syrer, die in die Türkei oder woanders hin gezogen sind, in ihre Heimat zurückkehren sollen. In dieser Hinsicht gibt es keine Probleme. Erdoğan verfolgt allerdings ein anderes Ziel. Er möchte seine bewaffneten Gruppen in die Sicherheitszone integrieren, die aus Idlib und anderen Regionen mit einbezogen.
Haben Sie eine Botschaft an die türkische Öffentlichkeit? Ist dieser Krieg, wie die türkische Regierung behauptet, im Interesse der Bevölkerung?
Haben die Völker der Türkei ein Überlebensproblem? Den Krieg wünscht die AKP/MHP-Koalition. Genaugenommen wird die AKP mittlerweile von der MHP regiert. Es werden zwei Ziele verfolgt. Erstens, die MHP möchte ihre traditionell rassistische und chauvinistische Politik betreiben. Zweitens will sie Erdoğan zu ihrem Kanonenfutter machen. Erdoğan hingegen ist auf die MHP angewiesen, um seine Macht zu behaupten.
Wenn wir uns die faschistische Praxis in der Türkei anschauen – damit meine ich die Intoleranz gegenüber Meinungsfreiheit, die Inhaftierung gewählter Parlamentarier oder Bürgermeister, die Verhaftung etlicher Menschen ohne jegliche Grundlage, Folter usw. – sehen wir, dass eine öffentliche Entrüstung und Wut gegenüber Erdoğan hervorgerufen wird.
Wie sieht die Haltung der demokratischen Öffentlichkeit angesichts dieser Aggression aus?
Die Völker der Türkei und Nordkurdistans sollten sich im Klaren darüber sein, dass die Interessen von Erdoğan und Bahçeli nicht die Interessen der Türkei sind. Orientieren wir uns am Beispiel der Istanbul-Wahl. Die friedliche Koexistenz zwischen türkischen, kurdischen, armenischen, tscherkessischen und allen anderen Bevölkerungsgruppen der Türkei hat dem aggressiven Trend Einhalt geboten. Das gleiche könnte auch jetzt wieder passieren. Die Politik des Duos um Erdoğan und Bahçeli wird der Zukunft der Türkei folgenschwere Probleme bescheren. Sie werden zu keinem Zeitpunkt im Interesse der Bevölkerung handeln.
Bisher haben wir über die Pläne der Türkei gesprochen. Wie sieht denn Ihre bzw. die Roadmap der demokratischen Autonomieverwaltung aus?
Wir bringen bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck, dass wir keinen Krieg wollen und dementsprechend handeln. Wir leben hier in unserem Land und fügen niemandem Schaden zu. In diesem Rahmen umfasst der von uns vorgelegte Entwurf eine fünf Kilometer breite Zone im Grenzgebiet unter Auslassung der Städte unter Kontrolle lokaler Kräfte. Die internationale Koalition könnte in dieser Pufferzone Patrouillen durchführen. Wir haben klar gemacht, dass die Kontrolle der sogenannten „Sicherheitszone” von internationalen Kräften übernommen werden muss. Die Türkei kommt für uns nicht in Frage. Im Übrigen müssten wir angesichts der Aggression der Türkei eine Sicherheitszone verlangen.
In der letzten Zeit finden insbesondere auf der Linie entlang des Euphrat bis nach Serêkaniyê massive Truppenbewegungen der türkischen Armee statt. Wie wird die Haltung der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens und ihrer Verteidigungskräfte im Falle eines Angriffs sein?
Sollte es zu einem Angriff kommen, werden die Völker in der Region das tun, was sie bereits seit Jahren tun. Sie werden sich wehren und Widerstand leisten. Die Autonomieverwaltung bemüht sich mit diplomatischen Mitteln, einen Krieg zu verhindern. Hierzu führen wir eine Reihe von intensiven Gesprächen. Unsere Bevölkerung bereitet sich währenddessen auf den Widerstand vor. Wir, das heißt zuallererst die kurdische Öffentlichkeit und alle demokratischen Kreise, sollten schon jetzt bereit sein, Haltung zu zeigen, und nicht erst den Angriff abwarten. Die gesamte Gesellschaft sollte sensibilisiert handeln. Unsere Vorbereitungen für den Bau von Unterständen, das Aufstocken von Medikamenten und Lebensmitteln sowie die Aktionspläne derjenigen, die im sozialen Bereich arbeiten, sind fast abgeschlossen. Wir sind eine Kraft, die den „Islamischen Staat“ besiegt hat. Niemand soll glauben, dass wir diese Region ohne weiteres aufgeben werden.
Wenn wir schon beim IS sind; es befinden sich Tausende IS-Mitglieder und Zehntausende IS-Angehörige in den Gefängnissen und Camps der Selbstverwaltung. Würde ein Angriff der Türkei nicht das Risiko mit sich bringen, den IS zu reaktivieren?
Seit Erdoğans Drohungen zugenommen haben, ist auch ein deutlicher Anstieg der Aktivitäten der IS-Schläferzellen zu verzeichnen. Im Moment werden Operationen gegen diese Zellen durchgeführt. Wenn wir uns aber die Parallelen zwischen Erdoğans Drohungen und den gesteigerten IS-Aktivitäten anschauen, sehen wir, dass diese koordiniert sind. Es ist, als hätten sie auf so etwas gewartet.
Eine Offensive würde der Wiederbelebung des IS einen guten Nährboden bieten, denn die QSD würden den Großteil ihrer Kräfte an die Frontlinie verlagern. Wie soll in so einem Fall die Kontrolle der Gefängnisse und Internierungslager mit den IS-Mitgliedern gewährleistet werden? Möglicherweise geht es Erdoğan sogar darum, sie zu befreien. Ein paar Schüsse auf die Gefängnisse, und schon hätte er sein Ziel erreicht. In so einem Fall ist allerdings nicht nur unsere Sicherheit gefährdet, sondern fast überall auf der Welt.
Ist das den internationalen Mächten denn nicht bewusst?
Natürlich ist ihnen die Sachlage klar. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum sie hin und wieder eine ablehnende Haltung gegen die Ambitionen der Türkei einnehmen.
Viele beschäftigen sich mit der Frage, ob der Luftraum über Nordsyrien im Fall einer Offensive für türkische Einsätze freigegeben wird. War das Thema bei Ihren Gesprächen mit der Koalition oder den USA?
Die Lage hier ist nicht dieselbe wie in Efrîn, da der Luftraum von der internationalen Anti-IS-Koalition und den Vereinigten Staaten kontrolliert wird. Für Flugzeuge anderer Länder bedarf es einer ausdrücklichen Genehmigung. Sollte der Luftraum für die Türkei jedoch geöffnet werden, haben wir es mit einem ganz anderen Bild zu tun. Sollte die türkische Regierung die USA überzeugen können, müssen sich die Amerikaner von hier zurückziehen oder zumindest ihren Luftverkehr einstellen.
Haben Sie das mit den USA oder der Koalition besprochen?
Eine offizielle Antwort haben wir bisher nicht erhalten. Von außen betrachtet können wir sagen, dass nicht alles den Wünschen Erdoğans entsprechen wird (lacht).