Zur Verteidigung der Revolution von Rojava und zum Schutz der Menschheit vor der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) sind in Nord- und Ostsyrien mehr als 13.000 Menschen ums Leben gekommen. Einer von ihnen war Mîtan Şoreş. Der 1995 in Serêkaniyê geborene Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurde am 6. November 2022 bei einem türkischen Drohnenangriff in Qamişlo getötet.
Mîtan Şoreş, der bürgerlich Kemal Mihemed Elî Dûdû hieß, stammte aus einer politisch engagierten, dem kurdischen Befreiungskampf verbundenen Familie und erlebte von Kindheit an die Repression des syrischen Baath-Regimes und die Widerstandskultur, die in die Revolution von Rojava mündete. 2016 schloss er sich mitten im heißen Krieg gegen den IS den QSD an. Angetrieben vom Gedenken an die vielen Gefallenen, war er in der ganzen Region aktiv. Bis zum Tag, an dem er fiel.
„Wir haben Tausende unserer tapferen Kinder verloren“
Während ich das Haus von Şehid Mîtan suche, klopfe ich an eine Tür, die der Adresse entspricht, die ich erhalten habe. Ein blonder Junge öffnet sie. Sein Name ist Tarik. Ich frage, ob dies das Haus von Hevalê Mîtan sei. Der Junge rennt lachend zu seiner Mutter. Dann wird mir schlagartig klar, dass Tarik das Kind von Şehîd Mîtan ist. An der Schwelle des Hauses begrüßt mich Ayşe, die Ehefrau des Gefallenen. Sie empfängt mich so herzlich wie alle ihre Gäste, als hätte sie sich geschworen, keine Träne um ihren Mann, den sie so jung verloren hat, zu vergießen. Sie zeigt auf ihr acht Monate altes Baby Lilyan und den lebhaften Tarik. „Das ist es, was mir als Erinnerung an Mîtan bleibt“, sagt sie.
Nach Flucht und Verteibung nun der Tod des Kindes
Şehîd Mîtan wuchs in der kämpferischen Atmosphäre der Revolution Kurdistans auf. Er lebte auch nach seiner Heirat mit Ayşe gemeinsam mit seinen Eltern unter einem Dach. Mîtans Mutter Ebta Elî und sein Vater Mihemed Elî sitzen schweigend im Wohnzimmer. Schließlich sagt die Mutter, es sei immer noch schwer zu glauben, dass der Sohn gefallen ist. Sie betracht dies aber nicht als individuelles Schicksal. „Es war nicht nur mein Mîtan. Wir haben Tausende unserer tapferen Kinder verloren, Tausende von Kindern sind ohne Elternteil geblieben.“
Es ist nicht notwendig, den Vater Mihemed anzusprechen. Seine Wut über die Angriffe des türkischen Staates ist deutlich von seiner gerunzelten Stirn abzulesen. Die Familie Dûdû stammt aus Serêkaniyê. Nach dem Einmarsch des türkischen Staates in der Stadt im Oktober vor drei Jahren mussten sie am dritten Tag der Invasion nach Rimêlan flüchten, Haus und Anbauflächen blieben zurück. Mihemed sagt: „Zuerst haben sie unser Zuhause und unsere Felder genommen. Dann haben sie uns meinen kleinen Sohn Kemal entrissen.“
Tarik und Lilyan sind die beiden Kinder, die Mîtan zurückgelassen hat. Sie sind sehr unterschiedlich. Lilyan ist ruhig und friedlich. Sie ist ein Mädchen, das nie die Gelegenheit haben wird, ihren Vater kennenzulernen. Sie ist sich nicht bewusst, welche Kämpfe ihre Familie geführt hat, welche Tradition des Widerstands in ihr lebt, dass ihr Vater gefallen ist. Tarik hingegen ist aktiver und unruhig wegen der Abwesenheit seines Vaters. Er fragt immer wieder, warum wir Mîtan nicht mitgebracht haben und wann er zurückkommen wird. Er hält Fotos seines Vaters in den Händen, will sie nicht hergeben. „Das ist mein Papa“, sagt er immer wieder. Während unseres Gesprächs mit seiner Mutter Ayşe rennt er ständig weg, umarmt das Bild von Hevalê Mîtan und sagt: „Mein Vater“.
Mîtan, Ayşe, Lilyan und Tarik
Ayşe Mihemed Mehmud sagt „Hevalê Mîtan“, wenn sie über ihren Ehemann spricht. Sie benutzt die Bezeichnung „Freund“ oder „Genosse“, wie es in der Freiheitsbewegung üblich ist, statt seinen bürgerlichen Namen zu nennen. Ayşe ist erst 22 Jahre alt.
„Er war ein Wahrheitssucher“
„Wir haben am 12. Dezember 2019 geheiratet und zwei Kinder bekommen; Lilyan und Tarik“, beginnt sie zu erzählen. Über Şehîd Mîtan sagt Ayşe: „Er war ein Wahrheitssucher. Er strebte nach Gerechtigkeit und gab jedem, was er konnte. Er liebte seine Genossen sehr. Er hatte ein reines Herz. Er hat nie jemanden beleidigt und war eher ruhig. Er sprach nur, wenn jemand eine Frage stellte.“ Nein, ein Leben als gewöhnliches Ehepaar hätten sie nicht geführt. 25 Tage im Monat sei Mîtan in der Selbstverteidigung gewesen, nur die restlichen fünf Tage kam er nach Hause. „Hin und wieder konnte Mîtan selbst diese kurze Zeit nicht zu Hause verbringen und kehrte zu seinen Freundinnen und Freunden zurück.“
Als Şehîd Mîtan fiel, war es Ayşe, die als Erste zum Ort des Geschehens geeilt war. Sie hat ihn aus dem bombardierten Fahrzeug befreit und in ein anderes Fahrzeug geschleppt. Dann fuhr sie ihren Mann in ein Krankenhaus. Nur eine halbe Stunde vor dem Drohnenangriff hatte Ayşe noch mit Hevalê Mîtan telefoniert. „Er sagte, dass er sich um eine Stunde verspäten würde, aber ich hatte ein ungutes Gefühl. Nach einer Weile gab es eine Explosion. Ich schrie auf und sagte zu meiner Schwiegermutter, dass es Mîtans Auto war. Ich spürte es. Als ich zum Ort des Anschlags ging, erkannte ich, dass es wirklich sein Wagen war, und ich rannte.“
Şehîd Mîtan hat seine Kinder kaum aufwachsen sehen. Tarik habe ihn gar nicht Vater genannt. „Mîtan pflegte zu sagen, der Junge solle ihn Heval nennen, nicht Vater“, sagt Ayşe. Das Kind habe sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass der Vater nicht mehr zurückkehren wird. „Er nimmt jeden Tag das Telefon in die Hand und bittet darum, Mîtan möge nach Hause kommen. Lilyan kennt ihren Vater ohnehin nicht. Sie ist erst acht Monate alt.“ Vergöttert worden sei sie von Hevalê Mîtan, große Liebe habe er für Lilyan empfunden. „Sie war etwas Besonderes für ihn. Jedes Mal, wenn er nach Hause kam, fragte er sich, wann sie ihn Papa nennen würde. An dem Tag, an dem er fiel, sagte Lilyan ‚Papa‘, aber Mîtan konnte es nicht mehr hören.“
Ayşe kann und will nicht akzeptieren, dass Mîtan gefallen ist. „Ich habe das Gefühl, dass er bei mir ist.“ Wie Mîtan wolle sie sein, in seine Fußstapfen treten. Er war Vorreiter der Revolution und hat viele Errungenschaften geschaffen, sagt sie. Das wolle sie schützen und weiterführen. „Ein Mîtan ist gegangen, Tausende müssen geboren werden und für die Revolution kämpfen.“ Den Kindern werde sie die Liebe zum Vater nicht vorenthalten. „Meine Liebe zu Mîtan ist bei meinen Kindern.“
„Er war aufrichtig“
Hevalê Mîtans Vater Mihemed Elî Dûdû ist von Trauer gezeichnet. Der 73-Jährige erzählt über den gefallenen Sohn, darüber, dass er 2016 nach Ableistung seiner Selbstverteidigungspflicht an den Befreiungsoffensiven gegen den IS in Til Temir, Dêrîk, Hol, Minbic und Tabqa teilgenommen hat. „Mîtan war ein guter Mensch. Er hatte viele Freunde, war aufrichtig. Er tat alles, was seine Genossen von ihm verlangten. Zu Hause war er auch so. Immer zuvorkommend, niemals unhöflich. Er hat nicht viel geredet, aber wenn er ein Gespräch anfing, wollte ich ihm unbedingt zuhören. Er hatte besondere Ansichten, war seinem Land eng verbunden und brachte immer seine Liebe zur Heimat zum Ausdruck.
„Wie lange wollen wir noch in Unterdrückung leben?“
Die Grundschule absolvierte Hevalê Mîtan in Damaskus. „Wir wollten, dass er viel lernt, aber er tat das nicht gern“, erinnert sich sein Vater. Das Regime habe sie als Bürger zweiter Klasse behandelt und unter zahlreichen Einschränkungen leiden lassen. Nach einer Volkszählung 1962 wurde den Kurdinnen und Kurden die syrische Staatsbürgerschaft aberkannt und unter der autoritären Herrschaft der Baath-Partei wurden sie vielfältig diskriminiert. Sie galten als „staatenlos“, wurden enteignet, jeglicher Besitz wurde ihnen untersagt. Erst nach Beginn des Bürgerkriegs ging Assad auf sie zu und bürgerte 300.000 Kurd:innen ein.
„Wir hatten noch nicht einmal einen Personalausweis“, erinnert sich Mihemed Elî Dûdû an die Zeit damals. Mîtan habe immer gesagt: „Was kann ich in einem Land tun, in dem ich nicht einmal als Bürger anerkannt werde, egal ob ich Arzt, Anwalt oder Lehrer werde?“ Das war der Grund, warum er nicht zur Schule wollte.
„Er hat ständig über Kurdistan gesprochen. ‚Wann werden wir ein freies Kurdistan haben und wann werden wir glücklich sein in unserem Land?‘, fragte er. Er erzählte allen, ob groß oder klein, von seiner Sehnsucht nach einem freien Kurdistan. Er wollte nur frei sein in der eigenen Heimat, er hatte kein Verlangen nach weltlichen Gütern. Die Völker sollten diese Wahrheit gut kennen: Wenn sie sich vereinigen, und das gilt vor allem für das kurdische Volk, wenn sie sich die Hände reichen, wenn sie die Verräter aus ihrer Mitte vertreiben, wird die Unterdrückung des kurdischen Volkes ein Ende haben. Wie lange wollen wir noch in Unterdrückung leben?“