Vor wenigen Wochen wurde in der Nähe der früheren „IS-Hauptstadt“ Raqqa im Norden von Syrien ein weiteres Massengrab mit mindestens 200 Toten entdeckt. In dem Massengrab in der früh-mittel-chalkolithischen proto-urbanen Siedlung Tell Zeidan, etwa fünf Kilometer östlich von Raqqa, seien neben mehreren Hinrichtungsopfern der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) vermutlich auch Menschen, die bei den monatelangen Kämpfen um die Stadt getötet wurden, verscharrt worden. Das teilte der Verantwortliche der Abteilung für Massengräber des Zivilrats von Raqqa, Yasser al-Khamis, mit. Bisher wurden die sterblichen Überreste von 51 Menschen mittleren Alters aus dem Grab exhumiert, im Durchschnitt schaffe das Team aus Freiwilligen drei Ausgrabungen pro Tag.
„Die Bergungsarbeiten ziehen sich aber speziell an diesem Massengrab in die Länge. Denn hier wurden deutlich mehr Leichen übereinandergestapelt als anderswo. Deshalb müssen wir besonders behutsam vorgehen“, sagte al-Khamis.
Yasser al-Khamis arbeitete früher als Ingenieur
Identifizierung schwierig, da keine DNA-Tests
Seit der Befreiung von Raqqa im Oktober 2017 sucht das an die demokratische Selbstverwaltung gebundene Bergungsteam nach Massengräbern des IS. Bisher wurden nach Angaben des Zivilrats 25 der 29 Massengräber geöffnet und weit mehr als 5700 Tote ausgegraben. Etwas mehr als 700 konnten über Ausweispapiere, die die Opfer bei sich trugen, identifiziert und von Angehörigen auf regulären Friedhöfen bestattet werden.
Gesteinigte Frauen und Kinder
In manchen der Massengräber wurden die Überreste von Frauen und Kindern entdeckt, die offenbar gesteinigt wurden, da ihre Schädel schwere Brüche mit Anzeichen für Steinigung aufwiesen. Auch wurden gefesselte und mit einer Kugel in den Kopf getötete Leichen von Personen in orangefarbenen Overalls gefunden. Diese Kleidung wurde typischerweise von IS-Geiseln getragen, oft handelte es sich um ausländische Journalisten und Aktivisten. Der US-Journalist James Foley trug ihn, als er von einem IS-Henker enthauptet wurde. Ebenso der jordanische Pilot Maas al-Kassasbeh, den die Islamisten in einem Käfig bei lebendigem Leib verbrannten. Auch Kayla Mueller, eine US-amerikanische Menschenrechtsaktivistin, die im Februar 2015 ebenfalls in Gefangenschaft der Dschihadistenmiliz ums Leben kam, soll den Overall getragen haben.
Die Identifizierung der Toten gestaltet sich allerdings als schwierig, da es in Raqqa keine Möglichkeiten für DNA-Analysen gibt. Neben der Technik fehlt es auch an Forensikern. Yasser al-Khamis beklagt sich dennoch nicht, da es der Stadt an fast allem fehle.
Siedlungshügel Tell Zeidan
Der Siedlungshügel von Tell Zeidan ist wenig erforscht. Im Jahr 2008 begann ein syrisch-amerikanisches Gemeinschaftsprojekt unter Leitung des Archäologen Gil Stein, dem Leiter des Oriental Institute der University of Chicago, das mit dem Einfall des IS in Syrien beendet werden musste. Bekannt ist allerdings, dass die Funde aus dem Siedlungshügel Tell Zeidan aus der Zeit zwischen 5800 und 3800 v. Chr. stammen und von einer uralten, hoch stehenden Zivilisation zeugen.
Neben Hausfundamenten und bemalter Keramik belegen diverse Kupferwerkzeuge aus Tell Zeidan die technischen Errungenschaften dieser Gemeinschaft. Erstaunlich daran ist, dass das Metall aus dem knapp 300 Kilometer entfernten Amed (türk. Diyarbakır) in Nordkurdistan auf dem Staatsgebiet der heutigen Türkei stammt und in Tell Zeidan verarbeitet wurde. Dies bedeutet, dass schon damals über weite Strecken Handel stattfand und in der Ortschaft spezialisierte Handwerker lebten.