Janet Biehl: Bei der PKK wird Theorie nicht nur gelesen, sondern auch umgesetzt

Wer eine demokratische Alternative will, muss vorbereitet sein. Man weiß nie, wann sich eine Gelegenheit bietet. Rojava hat gezeigt, dass Theorie nicht nur gelesen, sondern auch umgesetzt werden kann. Ein Gespräch mit der Theoretikerin Janet Biehl.

Murray Bookchin und Abdullah Öcalan: Ein Briefwechsel und sein Einfluss auf die Rojava-Revolution

Wenn es um soziale Ökologie geht, ist der erste Name, der einem in den Sinn kommt, Murray Bookchin. Der berühmte amerikanische Denker und Theoretiker verstarb 2006, doch seine Ideen haben bis heute Bestand. Mit seiner Theorie der sozialen Ökologie argumentierte Bookchin, dass ökologische Probleme nicht nur auf Umweltfaktoren zurückzuführen seien, sondern auch soziale Ursachen hätten. Seiner Ansicht nach kann eine nachhaltige und naturverträgliche Gesellschaft nur entstehen, wenn hierarchische und unterdrückerische Strukturen abgeschafft und ein soziales System auf Basis direkter Demokratie geschaffen werden.

Kurz vor seinem Tod führte Bookchin über Vermittler:innen eine Korrespondenz mit dem kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan. Dessen Paradigma des demokratischen Konföderalismus ist ein von Bookchin inspiriertes Gesellschaftsmodell. Janet Biehl, Wissenschaftlerin, Buchautorin und Künstlerin, die Bookchin in den letzten 19 Jahren seines Lebens begleitete und Bücher und Artikel, welche unter anderem die Ideen der Sozialökologie, aber auch der Rojava-Revolution behandelten, schrieb, sprach mit ANF über diesen bemerkenswerten Austausch.

Sie haben den Briefwechsel zwischen Murray Bookchin und Abdullah Öcalan aus nächster Nähe miterlebt. Wie erinnern Sie sich an dieses Ereignis?

Ich war in den letzten 19 Jahren von Murray Bookchins Leben seine Lebens- und Arbeitsgefährtin. Wir lebten in Burlington, Vermont. Als ich ihn kennenlernte, war er bereits ein bekannter Sozialtheoretiker, der sich für eine direktdemokratische, von unten nach oben verlaufende Struktur einsetzte. Er war sein Leben lang ein radikaler Denker und widmete sein gesamtes Erwachsenenleben dem Aufbau einer Bewegung um diese Ideen – ein oft frustrierender und kräftezehrender Prozess. Trotz aller Schwierigkeiten fand er bedeutende Unterstützer:innen, und seine Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt.


Mitte der 1990er Jahre erhielt er von einem Verlag in Istanbul das Angebot, einige seiner Werke in türkischer Übersetzung zu publizieren. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich den unterschriebenen Vertrag mit der Post abschickte. Ich dachte: Türkei? Soziale Ökologie? Das ist unmöglich. Doch ich schickte die Unterlagen trotzdem ab. Es stellte sich heraus, dass es eine der bedeutendsten Vereinbarungen war, die er je getroffen hatte. Seine Bücher wurden ins Türkische übersetzt und zusammen mit anderen sozialtheoretischen Werken 1999 an Abdullah Öcalan geschickt, nachdem dieser auf der Insel Imrali inhaftiert worden war.

Öcalan hat also die Bücher gelesen. Wissen Sie, wie er darauf reagiert hat?

Ich weiß es nicht aus erster Hand, aber viele sagen, dass die Bücher ihn stark beeinflussten. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist Folgendes: Im April 2004 erhielten wir eine E-Mail. Die Nachricht kam von einem kurdischen Aktivisten aus Deutschland, der sich in der Initiative für Öcalans Freiheit engagierte [gemeint ist Öcalan-Übersetzer Reimar Heider, Anm. d. Red.]. Er schrieb an Murray:

„Herr Öcalan hat Ihre Bücher gelesen und interessiert sich sehr für Ihre Ideen. Wäre ein Dialog oder eine Korrespondenz möglich?“

Zu dieser Zeit war Murray bereits alt und hatte nur noch zwei Jahre zu leben. Er hatte in seinem Leben viele Enttäuschungen erlebt, was ihn oft frustrierte. Über die Geschehnisse in Kurdistan wusste er nicht viel. Er hielt Öcalan für einen ehemaligen Marxisten. In seiner Antwort schrieb er lediglich:

„Oh, wie schön, es freut mich zu hören, dass er sich für meine Ideen interessiert. Hier ist eine Liste einiger meiner ins Türkische übersetzten Bücher.“

Diese Liste schickte er nicht direkt an Öcalan, sondern zunächst an den deutschen Vermittler, der sie an Öcalans Anwälte weiterleitete. Schließlich erreichte sie Öcalan.

Gab es danach noch weitere Briefe? Wurden theoretische Diskussionen geführt?

Ja, kurz darauf erhielten wir eine weitere Nachricht über denselben Kommunikationskanal. Darin schrieb Öcalan:

„Ich bin ein guter Schüler Ihrer Ideen. Ich betrachte mich selbst als Sozialökologen.“

Soziale Ökologie war der Begriff, den Murray für seine eigenen Ideen geprägt hatte. Es war klar, dass Öcalan insbesondere das ökologische Denken und die Verbindung zur direkten Demokratie von unten faszinierte – also die Idee, dass Menschen selbst über ihre Gemeinschaften entscheiden, anstatt von Konzernen und Großregierungen ausgebeutet zu werden.

Für die Kurd:innen, das weltweit größte staatenlose Volk, war eine nicht-staatliche Lösung naheliegend. Murray selbst war zunächst Anarchist, später Kommunalist, aber immer ein Gegner des Staates. Seine Theorien drehten sich um eine Gesellschaft ohne Staat und eine Demokratie ohne zentrale Machthaber. Es ist daher nicht schwer zu verstehen, warum Öcalan sich für seine Ideen begeisterte.

Doch in dieser Zeit verschlechterte sich Murrays Gesundheitszustand rapide. Er antwortete Öcalan mit den Worten:

„Herr Öcalan, ich bin nicht mehr in der Lage, einen ausführlichen Dialog zu führen. Aber es freut mich sehr zu hören, dass eine so fähige Persönlichkeit wie Sie die kurdische Bewegung führt. Ich hoffe, dass Sie diese Ideen in die Tat umsetzen können.“

Diese Antwort wurde positiv aufgenommen, und Öcalan begann, die Ideen in das Konzept des demokratischen Konföderalismus zu überführen. Er stellte sie der PKK vor, die sie annahm. Schon bald wurden sie zum Paradigma der Bewegung.

Als Murray Bookchin verstarb, schickte die PKK eine Beileidsbekundung. Was bedeutete das für Sie?

Ja, nach Murrays Tod erhielten wir die schönste Beileidsbekundung von der PKK. In ihrer Botschaft hieß es:

„Wir grüßen Bookchin, den großen Sozialtheoretiker des 20. Jahrhunderts, der uns den Weg der Ökologie und Demokratie gewiesen hat. Wir verpflichten uns, die erste Gesellschaft auf Erden aufzubauen, die auf seinen Ideen basiert.“

Das war wirklich außergewöhnlich. Ich wünschte, Murray hätte das erleben können. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. In den USA stand die PKK auf der Liste ausländischer Terrororganisationen. Ich fragte mich: Wenn ich zu viel Kontakt mit ihnen habe, lande ich dann im Gefängnis? Ich wusste es nicht. Also dankte ich ihnen und konzentrierte mich auf ein anderes Projekt – die Biografie von Murray Bookchin.

2011 nahmen Sie an einer Konferenz in Amed (tr. Diyarbakır) teil. War dies das erste Mal, dass Sie sahen, wie tief Bookchins Ideen in der kurdischen Bewegung verankert waren?

Ja. Ich wurde von Ercan Ayboğa, dem Gründer der Ökologiebewegung Mesopotamiens, eingeladen. Die Atmosphäre dort war unglaublich inspirierend. Frauen sprachen über Ehrenmorde, Menschenrechtsanwält:innen hielten Vorträge, es gab Debatten über Ökologie, Kapitalismus und Demokratie. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die mich ansprach und so tief in Murrays Theorien eingetaucht war, dass sie sie mir fast besser erklären konnte als ich selbst.

Sie reisten später mehrmals nach Rojava. Welche Eindrücke haben Sie dort gewonnen?

Ich besuchte Rojava erstmals 2014, dann 2015 und 2019. Das Besondere an meinen zweiten und dritten Besuchen in diesem Zeitraum war, dass ich in den ersten Tagen der Revolution einige Beobachtungen machen konnte und dann fünf Jahre später zurückkehrte, um zu sehen, was sich verändert hatte. Darüber kann ich sprechen, aber über die aktuelle Situation kann ich nicht viel sagen, da ich in den letzten Jahren keine Gelegenheit hatte, dorthin zu reisen.

Eines der Dinge, die mir bei meinen ersten Besuchen aufgefallen sind, war die Überwindung von Rachegedanken und der Aufbau eines inklusiven Gesellschaftsmodells. Es war von entscheidender Bedeutung, den Kreislauf der Rache zu durchbrechen und zu betonen, dass es keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die arabischen Gemeinschaften in Rojava geben würde. In jeder Akademie, die ich besucht habe – einschließlich der Asayîş [Behörde für innere Sicherheit, Anm. d. Red.], der Wirtschafts- und der Militärakademien – war die zentrale Botschaft immer dieselbe: Keine Rache.

Das Regime hatte den Araber:innen über Jahre hinweg das Narrativ vermittelt: „Wenn die Kurd:innen eines Tages an die Macht kommen, werden sie uns genauso behandeln, wie wir sie behandelt haben.“ Doch meine Eindrücke und Beobachtungen widersprachen dem völlig. Es gab enorme Anstrengungen, um auf Vergeltung und Abrechnungen zu verzichten und stattdessen die Idee einer gemeinsamen Zukunft mit den Araber:innen zu verwirklichen. Kurd:innen, Araber:innen, Tschetschen:innen, Assyrer:innen und alle anderen Völker der Region sollten gemeinsam ein neues Leben aufbauen, in dem ihre Schicksale miteinander verflochten sind. Trotz all dieser Bemühungen war 2015 jedoch noch eine gewisse Anspannung spürbar.

Als ich 2019 zurückkehrte, spürte ich, dass der Krieg gegen den IS die verschiedenen ethnischen Gruppen zusammengeschweißt hatte. Auch als ich mit den Menschen sprach, wurde deutlich, dass dieser Widerstand sie geeint hatte. Sie hatten nun eine gemeinsame Kampferfahrung. Die Araber:innen wussten, dass sie den Kurd:innen vertrauen konnten, und die Kurd:innen wussten, dass sie den Araber:innen vertrauen konnten. Frauen wussten, dass sie den Männern vertrauen konnten. Sie hatten sich in eine vereinte Verteidigungskraft verwandelt, die harmonisch zusammenarbeitete. Das war äußerst beeindruckend.

Als ich in Kobanê war, nahm ich an einer Versammlung eines Nachbarschaftsrates teil und stellte eine Frage zu diesem Thema. Ein Mann antwortete: „Unser Blut hat sich vermischt.“ Mit anderen Worten: Im Krieg gegen den IS waren sie zu einem einzigen Volk geworden. Das war einer der eindrucksvollsten Momente für mich.

Zahlreiche Akademiker:innen verweisen in ihren Arbeiten darauf, dass die Ideen von Murray Bookchin in Verbindung mit den Gedanken von Abdullah Öcalan in Rojava Wirklichkeit geworden sind. Was sind Ihre Eindrücke?

Wenn ein Modell Sie inspiriert, ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, wie Sie es unter Berücksichtigung der Realität in Ihrem eigenen Land anwenden können. Man kann die Bedingungen nicht überall einfach neu erschaffen. Die Situation in Rojava war sehr speziell. Das Assad-Regime musste sich aus dem Norden des Landes zurückziehen. Die kurdische Bewegung füllte das entstehende Machtvakuum. Eine solche Gelegenheit ergibt sich in der Geschichte nur selten. Was die kurdische Bewegung besonders beeindruckend machte, war, dass sie auf diesen Moment vorbereitet war. Sie hatten sich weitergebildet, Literatur studiert und sie an ihre eigenen Bedürfnisse angepasst. Sie hatten verstanden, dass dies der Weg zum Fortschritt war.

Eines der Dinge, die ich an der kurdischen Bewegung am meisten schätze, ist ihr Umgang mit Theorie als Werkzeug. In meinem Heimatland, den USA, stehen die Menschen der Theorie oft skeptisch gegenüber. Sie denken eher praktisch, sind misstrauisch und wollen greifbare Beweise sehen. Einige meiner europäischen Freund:innen hingegen lieben Theorie, schätzen sie, stellen sie in ihre Bücherregale und halten sie für etwas Schönes – aber setzen sie oft nicht in die Praxis um.

Die kurdische Bewegung ist völlig anders. Sie wählt zuerst die richtige Theorie aus, passt sie an ihre Bedürfnisse an, verändert sie, zieht ihre Schlussfolgerungen und setzt sie dann um. Genau das hat sie in der Rojava-Revolution und schon davor getan. Ihre Fähigkeit, Theorie in Praxis zu verwandeln, ist außergewöhnlich. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.

Ich persönlich würde gerne in einer Gesellschaft leben, die durch eine staatenlose Demokratie regiert wird. Ich halte es für äußerst wichtig, Wege zu finden, diese Ideen in unseren eigenen Gesellschaften anzuwenden. Selbst wenn es im Moment nicht möglich ist, müssen wir bereit sein, wenn sich die historischen Bedingungen ändern. Denn man weiß nie, wann dieser Moment kommen wird.

Die Welt befindet sich derzeit in einem Umbruch. Autoritäre Kräfte versuchen, Gesellschaften nach dem Modell von Anführern wie Erdoğan umzugestalten und Diktaturen zu festigen. Gleichzeitig gibt es Gesellschaften, die für verschiedene Formen der Demokratie eintreten – einige unterstützen die repräsentative Demokratie, andere verfassungsrechtliche Republiken und wieder andere, wie in Rojava, eine basisdemokratische, direkte Demokratie. Bis die autoritären Kräfte besiegt sind, müssen wir meiner Meinung nach alle zusammenstehen, um die Demokratie – in welcher Form auch immer – zu verteidigen. Wir haben ein gemeinsames Ziel, und das sollte unsere Priorität sein.

Sie haben auf die Bedeutung der Rojava-Revolution für die Zukunft der Demokratie hingewiesen. Was muss getan werden, um dieses Modell zu schützen?

Ich glaube, dass sich jeder, der sich für Rojava interessiert, an seine Regierung wenden sollte. Diese Bewegung mag staatskritisch oder sogar staatslos sein, aber Regierungen haben enormen Einfluss auf die Geopolitik – und genau mit ihnen müssen wir uns auseinandersetzen. Ich lebe in den USA und schreibe regelmäßig an meine Senator:innen und Kongressabgeordneten über Rojava. Ich erinnere sie daran, dass die USA ihre kurdischen Verbündeten, mit denen wir gemeinsam gegen den IS gekämpft haben, nicht im Stich lassen dürfen. Ich weise darauf hin, dass die Kurd:innen in Syrien den IS militärisch besiegt haben und in diesem Krieg 11.000 Menschen verloren haben – und dass wir an ihrer Seite stehen müssen. Jeder sollte dies in seinem eigenen Land tun.