Gulê Cafer: „Ich habe mich wie neu geboren gefühlt“

Gulê Cafer ist Ezidin und stammt aus Efrîn. Sie war eine der ersten Frauen, die in Aleppo für die PKK aktiv waren: „Ich habe mich wie neu geboren gefühlt. Es war, als ob ich vorher verloren war und mich wiedergefunden hätte.“

Gulê Cafer stammt aus dem Dorf Basufane in Efrîn-Şerewa und ist Ezidin. Zusammen mit ihrem Mann Süleyman hat sie sich 1988 auf ziviler Ebene der kurdischen Befreiungsbewegung angeschlossen. Sie war eine der ersten drei Frauen, die im Stadtteil Eşrefiye in Aleppo in der Volksarbeit für die Bewegung tätig waren. Diese Arbeit setzt sie seit 34 Jahren fort, momentan ist sie Ko-Vorsitzende von TEV-DEM in Şehba. Zwischen 1989 und 1991 hat sie drei Mal Abdullah Öcalan getroffen. Von dieser Zeit und ihren heutigen Vorstellungen hat sie ANF in Aleppo berichtet.

Eine Befreiungsbewegung aus dem Norden“

Eşrefiye ist einer von zwei kurdischen Vierteln in Aleppo. Dort hat Gulê Cafer 1988 die ersten PKK-Kader getroffen: „Ich lebte in Aleppo. Meine Nachbarn waren von der Azadî-Partei. Sie kamen seit zwei Jahren häufig zu uns, um uns zu organisieren. Eigentlich kamen schon seit 1980 ständig Leute von verschiedenen Parteien, um Mitglieder zu werben. Ihre Vorstellungen überzeugten mich jedoch nicht. Ich hatte allerdings davon gehört, dass eine kurdische Befreiungsbewegung im Norden entstanden ist und für Kurdistan kämpft. Diese Bewegung interessierte mich. Mein Mann und ich wollten sie kennenlernen.

Dann kamen eine Kämpferin und ein Kämpfer der Guerilla zu uns, Saadet und Ali. Beide waren aus Kobanê. Als sie erfuhren, dass wir lesen können, gaben sie uns die Zeitschrift Dengê Kurdistan. Heval Saadet sagte: ,Du bist doch Ezidin, in der Zeitschrift steht etwas über über das Leben und den Kampf von Heval Bêrîvan. Lies es heute Abend, morgen früh komme ich wieder zu dir.' Ich las die ganze Nacht und dachte, dass ich ein Mensch bin, der sein Land liebt, und genau diese Ideen gebraucht habe. Danach habe ich angefangen, für die Bewegung zu arbeiten. Ich war eine der ersten Frauen in Eşrefiye, die sich an der Volksarbeit für die kurdische Befreiungsbewegung beteiligt haben. Damals nannte man uns ,Frontarbeiter'.“

Wie die kurdische Liebe zum eigenen Land sein muss

Ein Jahr später fuhr Gulê Cafer mit vielen anderen Menschen aus Rojava in die Bekaa-Ebene im Libanon, um an einer Feier zum Jahrestag des bewaffneten Kampfes am 15. August 1984 teilzunehmen. Dort traf sie das erste Mal auf Abdullah Öcalan, erzählt sie: „Alle strömten mit großer Begeisterung in den Libanon, um Rêber Apo zu sehen. Die Freundinnen und Freunde hatten nur sehr begrenzte Möglichkeiten, trotzdem wurden Tausende Menschen empfangen und untergebracht. Rêber Apo hat von morgens um zehn Uhr bis nachmittags um drei oder vier zu uns gesprochen, ohne sich hinzusetzen, auszuruhen oder eine Pause zu machen. Er erzählte von Kurdistan und wie die kurdische Liebe zum eigenen Land sein muss. Wir alle waren tief beeindruckt von seinen Ausführungen. Alle fanden sich darin wieder. Wir erkannten darin die Realität unseres Landes und Volkes.“

Im nächsten Jahr kamen noch mehr Menschen aus Syrien zum 15. August in die Bekaa-Ebene. Auch Gulê war 1990 wieder dabei. Es waren viel mehr Menschen als erwartet und nach der Feier sollten sie wieder gehen. „Aber alle sagten, dass sie nicht zurückkehren wollen, ohne Serok Apo gesehen zu haben. Es wurde Abend und niemand wollte gehen. So viele Menschen im Camp unterzubringen und mit Essen und Trinken zu versorgen, war schwierig. Da alle darauf beharrten, wurden wir schließlich ins Camp gebracht. Die Freundinnen und Freunde wurden in Alarm versetzt, um für all die Menschen Essen zu machen. Auch die Menschen aus der Bevölkerung halfen dabei, aber zum Schlafen war kein Platz. Die Freundinnen und Freunde überließen den kranken Frauen, den Kindern und den Alten ihre eigenen Zelte. Niemand schlief in dieser Nacht, im Zelt und draußen herrschte große Aufregung. Morgens um neun Uhr kam Rêber Apo. Er redete vier Stunden lang über die Entstehung der Bewegung und die seitherigen Entwicklungen, über den Kampf. Wir alle kehrten danach glücklich und begeistert nach Syrien zurück.“

In Kopf und Herz übergegangen

Gulê Cafer sagt, dass sie ihre damaligen Gefühle nicht in Worte fassen kann. Es waren zwei Dinge, die bei ihr die Verbundenheit mit der Bewegung ausgemacht haben: „Das erste waren Rêber Apo und seine Gedanken, das zweite die Gefallenen. Das sind die grundlegenden Werte und Verbindungen, die dafür gesorgt haben, dass wir unsere Arbeit bis in die Gegenwart gebracht haben. Zwischen 1980 und 1988 wollten mich viele kurdische Parteien organisieren, aber ihre Vorstellungen überzeugten mich nicht. Die Ideen von Rêber Apo sind sofort in mein Herz und meinen Kopf übergegangen. Millionen Menschen haben sich um ihn versammelt, weil sie bei ihm die Wahrheit gesehen haben. Wir haben sowohl die Theorie als auch die Praxis von Rêber Apo und der PKK gesehen.“

Er gab uns Vertrauen in uns selbst“

Gulês drittes Zusammentreffen mit Öcalan war eine Versammlung Ende 1991: „Wir waren glücklich und aufgeregt, aber es herrschten auch Angst und Sorge, weil es eine besondere Versammlung war. Wir arbeiteten in Aleppo für die kurdische Freiheitsbewegung und sollten Rêber Apo gegenüber Rechenschaft über unsere Arbeit ablegen. Natürlich fragten wir uns, was er wohl wissen will und wie es werden wird. Beide Gefühle vermischten sich und wir standen unter Druck. Rêber Apo führte nacheinander Versammlungen mit Alten,Männern, Jugendlichen, Frauen durch. Er ging von einer Versammlung zur nächsten. Während wir gespannt darüber nachdachten, kam er zusammen mit Şehîd Welat. Welat war Guerillakämpferin. Wir setzten uns, er blieb stehen. Wir warteten mit gemischten Gefühlen, Aufgeregtheit, Liebe, Neugier. Rêber Apo verhielt sich jedoch so, dass alle Sorgen verflogen und wir aufatmeten. Sein Umgang mit Menschen war unterschiedlich. Mit der Guerilla sprach er anders als mit der Bevölkerung und mit Frauen war es nochmal anders. Als er zu sprechen begann, entspannten wir uns innerlich sofort. Er gratulierte uns zum bevorstehenden neuen Jahr und uns Frauen zu unserer Arbeit. Er sagte, dass es eine wertvolle Arbeit ist. Dann fragte er uns, wie wir mit der Arbeit begonnen haben und wie wir vorgehen. Wir antworteten und er wollte wissen, wie oft wir bisher an Weiterbildungen teilgenommen haben. Als wir sagten, dass wir uns selbst weiterbilden, sah er Şehîd Welat an. Sie verstand sofort und sagte, dass ein Bildungsprogramm in Planung ist. Rêber Apo sprach mit uns über die Lage des Volkes und unsere Arbeit. Mit seinen Bewertungen gab er uns Vertrauen in uns selbst und in unser Geschlecht.“

Kämpft und befreit euch“

In den 1980er Jahren war es für eine Kurdin in Rojava nicht leicht, die häuslichen Grenzen zu überwinden und zu kämpfen. Vor allem für verheiratete Frauen war es nicht einfach, sagt Gulê. Die Kraft dafür, gleichzeitig gegen die Familie, Männer und den Feind zu kämpfen, hat sie von Abdullah Öcalan bekommen. Bei der Versammlung mit den aktiven Frauen in Aleppo sagte er, sie sollten ein Bewusstsein entwickeln, kämpfen und frei werden. „Diese Worte haben mich dazu gebracht, den Kampf mit mir selbst zu beginnen. So wie Rêber Apo seinen Kampf mit seiner eigenen Person und seinem Umfeld begonnen hat, habe ich es auch versucht. Ich habe nach den reaktionären Eigenschaften und der Zerstörung gesucht, die der Feind in mir hervorgerufen hat, und dann habe ich mich um eine Veränderung bemüht. Ich wollte bewusster werden“, so Gulê Cafer.

Innerhalb der Familie gegen den Mann kämpfen

Während Gulê gegen die vom Kolonialstaat angerichtete Zerstörung ihrer Persönlichkeit kämpfte, musste sie gleichzeitig auch innerhalb der Familie mit ihrem Mann und ihrem Sohn einen Frauenkampf ausfechten, um überhaupt aktiv in der kurdischen Bewegung arbeiten zu können. Sie erzählt aus dieser Zeit:

„Meine Familie war ein bisschen entspannter als andere Familien. Mein Mann und ich waren gleich lang zur Schule gegangen, es bestand eine gewisse Aufgeklärtheit. Trotzdem gab es Hindernisse, die von Männern wissentlich oder unwissentlich aufgeworfen wurden. Als 2003 die PYD gegründet wurde, war ich eine von zwei Frauen, die in den Vorstand gewählt wurden. Die zentralen Versammlungen fanden in Cizîrê statt und wir wohnten in Aleppo. Bei der ersten Sitzung bestanden mein Mann und mein Sohn darauf, dass ich nicht hinfahre. Ich fuhr nicht und Heval Aldar Xelîl kritisierte mich heftig dafür. Er sagte: ,Du willst sowohl Verantwortung übernehmen als auch zu Hause herumsitzen.' Und ich antwortete: ,Du weißt nicht, was bei mir zu Hause los ist. Ich werde dieses Hindernis ohne deine Hilfe überwinden.' An allen weiteren Sitzungen habe ich teilgenommen. Vielleicht machte sich mein Mann Sorgen, dass ich in die Hände des damals starken Regimes fallen könnte, aber eventuell hatte er auch damit Probleme, dass ich eine Aufgabe auf einer höheren Ebene als er hatte. Jedenfalls wollte er mich aufhalten. Dieses Hindernis habe ich mit der Kraft überwunden, die ich von Rêber Apo und seinen Ideen bekommen habe. Ich habe viele Freundinnen, bei denen es ähnlich ist. Der Mut, innerhalb der Familie gegen den Mann zu kämpfen, ist nicht einfach so entstanden. Diese Kraft haben uns Rêber Apo und die gefallenen Frauen gegeben, die sich zur Brücke in unsere Zukunft gemacht haben. Inzwischen haben wir als kurdische Frauen viele Dinge überwunden und eine weite Strecke zurückgelegt. Unser Kampf gegen den Mann und den Feind geht mit Rêber Apos Ideologie weiter. Er geht innerhalb der Familie weiter und auch innerhalb der Bewegung.“

Wie neu geboren

Gulê Cafer sagt, dass sie sich als Frau, als Kurdin und als Ezidin durch die Gedanken von Abdullah Öcalan und die kurdische Befreiungsbewegung kennengelernt hat: „Als ich Rêber Apos Vorstellungen gelesen habe, sah ich, dass er sich hinter die Eziden stellt. Er sprach von der Geschichte der ezidischen Kurden und nahm sich ihrer an. Das hat unsere Verbundenheit erhöht. Wir hatten es noch nie erlebt, dass ein kurdischer Anführer sich hinter die Eziden stellt. Er kannte unsere Geschichte gut und betrachtete sie als die Geschichte aller Kurden. Das gilt auch heute noch. In allen seinen Verteidigungsschriften geht er auf die Eziden ein. Dank ihm können wir unser Ezidentum besser zum Ausdruck bringen, wir kennen es besser. Ich bin Ezidin, aber die ezidische Realität kenne ich von Rêber Apo. Nachdem ich ihn und die Bewegung kennenlernte, habe ich siebzig ezidische Familien in Eşrefiye damit bekannt gemacht. Sie sind Freunde der Bewegung geworden. Durch die Ideen von Rêber Apo habe ich mich selbst, mein Volk, meine Geschichte und meine Religion kennengelernt. Ich habe mich wie neu geboren gefühlt. Es war, als ob ich vorher verloren war und mich wiedergefunden hätte.“