Girê Spî: Flucht aus Besatzungszone dauert an
In den vergangenen drei Monaten sind mehr als 200 Familien aus dem türkischen besetzten Girê Spî in Nordsyrien in die selbstverwalteten Gebiete geflohen.
In den vergangenen drei Monaten sind mehr als 200 Familien aus dem türkischen besetzten Girê Spî in Nordsyrien in die selbstverwalteten Gebiete geflohen.
Die Flucht aus der von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen geprägte Besatzungszone der Türkei in Nordsyrien dauert an. Allein aus dem ehemaligen Kanton Girê Spî (Tall Abyad) sind in den vergangenen drei Monaten 256 Familien aufgrund der schlechten Lebensbedingungen und der katastrophalen Sicherheitslage in die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien (AANES) geflohen. Das berichtet die Nachrichtenagentur Hawarnews (ANHA) unter Verweis auf einen Bericht des Kantonsrats von Girê Spî. Die Familien stammen demnach hauptsächlich aus dem Zentrum der Stadt Girê Spî, der Gemeinde Silûk, dem Dorf Zeydî sowie aus verschiedenen anderen Gebieten des Kantons.
Das ehemals selbstverwaltete Girê Spî wurde wie die Stadt Serêkaniyê (Ras al-Ain) im Oktober 2019 von der Türkei besetzt und wird vom türkischen Geheimdienst MIT und dschihadistischen Söldnern kontrolliert. Nach Angaben des Kantonsrats mussten nach der türkischen Invasion mehr als 100.000 Menschen allein aus Girê Spî fliehen. Seitdem herrscht in der Region ein Regime des Terrors. Während Ankara durch seine Gouverneure und den MIT die Fäden zieht, setzen Söldnertruppen, die sich aus Rechtsextremisten, Dschihadisten der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) und anderen islamistischen Milizen zusammensetzen, die Besatzung um – Erpressungen, Entführungen und extralegale Tötungen prägen den Alltag.
Im Vergleich zu anderen Gebieten in der türkischen Besatzungszone dringen aus Girê Spî kaum Meldungen über die Lage der Zivilbevölkerung nach außen. Demgegenüber zeigen die aus der ebenfalls von der Türkei und dschihadistischen Proxy-Truppen besetzten Region Efrîn gemeldeten Fälle von Menschenrechtsverbrechen das alarmierende Ausmaß der Übergriffe: Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Rêxistina Mafên Mirovan li Efrîn-Sûriye“ wurden allein im Mai mindestens 53 Personen, vier von ihnen Frauen, unter verschiedenen Vorwänden verschleppt. Für ihre Freilassung forderten Besatzungstruppen tausende Dollar Lösegeld. Seit der Besatzung des früheren Kantons im Jahr 2018 dokumentierte die Organisation bereits rund 10.000 Entführungen – zusätzlich zu hunderten extralegalen Tötungen.
Dieser Terror in der Besatzungszone ist Teil der Politik der demographischen Umgestaltung der Region, mit der die Türkei das Ziel verfolgt, die kurdische Bevölkerung und die gesamte Opposition gegen die Besatzung zu vertreiben und durch pro-türkische Siedler ersetzen will. Seit Jahren äußern Menschenrechtsorganisationen die Befürchtung, dass eine Annexion der betroffenen Regionen in Vorbereitung ist. Die Gebiete der Selbstverwaltung dagegen sind ein Fluchtpunkt. Nach der verheerenden Erdbeben-Serie vom Februar im türkisch-syrischen Grenzgebiet haben auch zahlreiche Menschen aus den vom Regime in Damaskus kontrollierten Gebieten ihre zerstörte Heimat verlassen und sind in die AANES geflohen.
Titelbild: „Wiedereröffnung“ einer bei der Invasion 2019 von der Türkei zerstörten Schule in Girê Spî