Nach dem militärischen Sieg der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) über den IS befinden sich 11.000 IS-Dschihadisten sowie 72.000 Frauen und Kinder von IS-Dschihadisten in den selbstverwalteten Gebieten. Während die Dschihadisten in Gefängnissen festgehalten werden, befinden sich die Frauen und Kinder in Flüchtlingslagern. Unter ihnen sind Personen aus 54 verschiedenen Ländern. Im Moment wird das Schicksal der ausländischen IS-Mitglieder und ihrer Angehörigen diskutiert.
ANF sprach mit dem Ko-Vorsitzenden des Büros für auswärtige Angelegenheiten der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Dr. Abdulkarim Omar. Er erklärte, dass bereits zwei Tage nach dem Sieg über den IS eine Kommission bezüglich des Schicksals der ausländischen IS-Mitglieder eingerichtet und mit diplomatischen Aktivitäten begonnen worden ist. Bei der Frage handele es sich um ein internationales Problem, daher seien vor allem mit den Staaten der internationalen Koalition Gespräche geführt worden. Es müsse ein internationaler Gerichtshof für die Gefangenen IS-Dschihadisten eingerichtet werden.
Allerdings habe der Kampf gegen die Mentalität des IS erst begonnen, so Omar: „Der 23. März ist für uns ein historisches Datum. Nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Der IS ist an diesem Tag von den QSD militärisch besiegt worden. Aber unser Kampf ist nicht vorbei. Bei der letzten Operation wurden nahezu 6.000 IS-Mitglieder festgenommen. Die Zahl der Frauen und Kinder ist sehr, sehr hoch. Im Moment befinden sich zehntausende IS-Mitglieder, ihre Familien und Kinder aus 54 Staaten bei uns.“
„Sie werden für die Zukunft aller eine Gefahr darstellen“
Die Region stehe weiter unter permanenter Bedrohung, betont er: „Die Anwesenheit der IS-Mitglieder ruft große Bedenken hervor. Viele Parteien, insbesondere die Türkei, bedrohen uns. Wenn diese Personen einen möglichen Angriff als Chance nutzen und zu fliehen versuchen, dann werden sie für uns und die ganze Welt eine große Bedrohung darstellen. Alle Kinder über acht Jahren wurden in Lagern unter dem Namen ‚Zukunft des Kalifats‘ ideologisch und militärisch ausgebildet. Auch ihre Zukunft bietet Anlass zur Sorge. Wenn sie nicht rehabilitiert werden, dann werden sie in Zukunft ebenfalls eine große Gefahr darstellen.
„Niemand will seine eigenen Staatsbürger zurücknehmen“
Aber bisher haben sich allen voran die europäischen Staaten geweigert, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Das finden wir nicht richtig. Diese Region hat die größte Unterdrückung, Plünderungen, Zerstörung und Massaker durch den IS erlebt. Die Tatorte sind hier, die IS-Mitglieder sind hier festgenommen worden. Deshalb denken wir, dass diese Personen vor einem internationalen Gerichtshof hier verurteilt werden sollten.“
„Justizräte haben die Arbeit aufgenommen“
Am 25. März wurde eine Kommission zum Aufbau eines internationalen Gerichtshofs eingerichtet und Gespräche mit den Ländern der internationalen Koalition in dieser Hinsicht geführt. „Auch haben unsere Justizräte damit begonnen, Verfahren gegen diese Personen nach den Gesetzen Nord- und Ostsyriens vorzubereiten. Wir werden sie hier verurteilen, denn die Tatorte sind ebenfalls hier“, erklärt Omar.
„Es gibt zwei mögliche Wege“
„Im Moment gibt es zwei Optionen: Eine ist, dass die Länder ihre Staatsbürger zurücknehmen. Aber es gibt im Moment kein Land, das sich dementsprechend verhält. Die andere Option ist es, diese Personen hier zu verurteilen und die Rehabilitation von Frauen und Kindern hier durchzuführen. Dafür braucht es ebenfalls internationale Unterstützung. Das Problem ist viel größer als allgemein angenommen. Wenn beide Optionen abgelehnt werden, muss man eine Alternative vorschlagen. Aber soweit wir das beurteilen können, wurde bisher keine Alternative entwickelt.“
„Es werden die Terroristen der Zukunft aufgezogen“
Der Außenpolitiker erklärt weiter: „Das, was wir gesagt haben, gilt für die IS-Dschihadisten. Aber die Situation der Frauen und Kinder ist ein anderes Thema. Die Frauen, die in Verbrechen verwickelt und Straftaten im IS-System begangen haben, werden wie die anderen Dschihadisten auch verurteilt werden. Aber die anderen Frauen und die Kinder benötigen einen langfristigen Rehabilitations- und Bildungsprozess. Wenn in dieser Hinsicht keine Arbeit stattfindet, wird ihre Rückkehr ins normale Leben, ihre Beteiligung an der Gesellschaft und ihr Heilungsprozess ein ernstes Problem darstellen. Oder die Kinder werden zu den Terroristen der Zukunft heranwachsen.“
„Es handelt sich um ein internationales Problem“
„Wir können das alles nicht allein machen. Es muss mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft stattfinden“, betont Omar, „denn diese Leute sind ihre Staatsbürger. Viele Kinder haben beide Elternteile verloren. Viele Frauen haben von Personen aus anderen Ländern Kinder. So hat eine Frau beispielsweise fünf Kinder. Der Vater jeden Kindes kommt aus einem anderen Land. Das Problem ist ein internationales. Bisher hat kein Land uns gegenüber ‚Nein, das geht nicht‘ gesagt. Es gibt einige Länder, die eine positive Haltung an den Tag legen. Im Moment sind diese Gespräche noch neu und unsere Treffen gehen weiter. Wir sind davon überzeugt, dass wir den Kampf in dieser Hinsicht alle gemeinsam führen werden. Denn es gibt keine Alternative.“