Eine Geschichte aus dem Widerstand in Serêkaniyê

Rojava ist ein Teil Kurdistans, der zur Hochburg des Widerstands gegen die Besatzung geworden ist. Der YPG-Kämpfer Xemgin Cudi hat die türkische Invasion in Serêkaniyê verletzt überlebt und erzählt seine Geschichte.

Xemgin Cudi stammt aus Dirbesiyê, ist Vater von zwei Kindern und Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten YPG. Bei dem Angriff der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Proxys auf Serêkaniyê (Ras al-Ain) hat er viele seiner Weggefährten verloren, er selbst wurde verletzt. Gegenüber ANF hat er von seinen Erlebnissen berichtet:

Fünf Geschwister im Widerstand

Ich habe mich 2011 den YPG angeschlossen. Der Grund dafür waren meine Freunde, die in diesem Kampf ihr Leben verloren haben, und die Philosophie von Rebêr Apo [Abdullah Öcalan]. Aber auch meine Familie spielte eine Rolle. Mein großer Bruder Mazlum hat damals in Serêkaniyê gekämpft und ist gefallen. Meine Schwester hat in Ceza gekämpft und wurde schwer verletzt.

Wir sind fünf Brüder. Nachdem mein großer Bruder gefallen ist, sind wir jetzt vier Brüder und eine Schwester bei den Verteidigungseinheiten. Als wir in Serêkaniyê gekämpft haben, war die ganze Familie dort, um den Widerstand zu unterstützen. Eine solche Familie hat eine große Wirkung auf einen Menschen, der Widerstand leistet. Jeder hätte an meiner Stelle so gehandelt, niemand hätte sich dem Feind gebeugt. Es gibt Familien, von denen vier Kinder in diesem Kampf gefallen sind. Als Gefallenenfamilien und als Kämpferinnen und Kämpfer werden wir niemals verlieren. Wir werden immer Widerstand leisten.

Aus Geschwistern werden Weggefährten

Wir Geschwister haben uns zusammen dem Kampf angeschlossen, um unser Land zu verteidigen. In diesem Kampf werden aus Geschwistern Weggefährten. Die genossenschaftlichen Beziehungen stehen über allem. Es hat mich trotzdem sehr stolz gemacht, dass meine Geschwister dabei waren. Schulter an Schulter an derselben Front zu kämpfen, ist etwas ganz Besonderes. Ich war seit 2011 an vielen Offensiven beteiligt, bei anderen war ich hinter der Front für die Verteidigung zuständig.

Nach dem militärischen Sieg über den IS lebten die Menschen endlich in Ruhe und Sicherheit. Diese ruhige Atmosphäre war für den türkischen Staat nicht hinnehmbar. Er sammelte die IS-Reste und andere Dschihadistengruppen zusammen und ließ sie unter neuem Namen erneut gegen uns antreten. Er unterstützte sie mit Waffen und logistisch. Er wollte dieselbe Sache unter einem anderen Namen machen. Sogar die Waffen, die benutzt wurden, zeigten, dass der IS unter einem anderen Namen angreift.

Lieber sterben als weggehen

Als YPG ist der Schutz der Bevölkerung unser oberstes Gebot. Ein Freund namens Dilyar sagte in Serêkaniyê, dass Personen in unser Gebiet gekommen sind und nicht klar sei, ob es sich um Zivilisten oder Militärs handelt. Damit die Bevölkerung nicht zu Schaden kommt, hat er sich selbst geopfert und ist gefallen, als er sich dieser Gruppe näherte. Während er sechs Stunden verletzt da lag, wurden wir von Flugzeugen bombardiert. Von den vier Freunden, die ihn retten wollten, sind einige gefallen und andere verletzt worden.

Am nächsten Morgen begannen die Angriffe auf Til Xelef, Mebruka und Neştel. Das Stadtzentrum wurde mit Flugzeugen, Panzern und Granaten angegriffen. Ohne die Luftwaffe und vor allem die Luftaufklärung hätte der Feind keinen Meter Boden militärisch einnehmen können. Als die Angriffe in Til Xelef anfingen, tauchten auch Schläferzellen dort auf. Dadurch kamen einige unserer Freunde ums Leben. Der Feind war noch nicht ins Stadtzentrum vorgedrungen und wir versuchten, die Zivilisten herauszuholen. Wir waren schließlich Kämpfer, vielleicht würden wir fallen oder verletzt werden, aber für die Zivilbevölkerung war es schwierig, sich zu verteidigen.

Neun Tage lang waren wir entschlossen, die Stadt nicht aufzugeben, obwohl wir weniger wurden. Alle wollten lieber sterben als dort wegzugehen. Es wurden verbotene Waffen gegen uns eingesetzt, vor allem weißer Phosphor, aber auch andere chemische Kampfstoffe. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie die Äste an den Bäumen geschmolzen sind. Mit 180 Personen waren wir vielleicht eine kleine Gruppe, aber wir haben sehr kameradschaftlich und mit großer Opferbereitschaft Widerstand geleistet.

Unsere Lieder hallten durch die Straßen

Das Krankenhaus, in das Kranke und Verwundete gebracht wurden, ist aus der Luft bombardiert worden. Sie wollten unsere Verletzten mit Panzerwagen holen, aber wir haben ihnen niemanden gegeben, weder Verwundete noch Gefallene. Ein Freund namens Hekim war gefallen und sie wollten seine Leiche holen und haben uns angegriffen, aber wir haben es nicht zugelassen. Wir hatten nur das eine Ziel, Widerstand zu leisten und die Stadt nicht aufzugeben. Selbst als Tote wollten wir die Stadt nicht verlassen. Das war dem Feind bewusst. Er wusste genau, dass er die Stadt nicht ohne seine Luftwaffe einnehmen kann.

Moralisch ging es uns gut, unsere Parolen und unsere Lieder hallten durch die Straßen, wir tanzten. Der Feind hatte es auf Serêkaniyê abgesehen. Er ging davon aus, dass mit dem Fall von Serêkaniyê auch Amûdê, Dirbesiyê, Qamişlo und Dêrik fallen würden. Es ging dabei nie um die Rückkehr der Menschen aus Syrien. Sie sind gekommen, um zu plündern und zu rauben. Als Menschen aus Rojava haben wir uns dagegen gewehrt.

Niemals aufgeben

Ich bin am 24. Tag zwischen Ummil Kef und Qasimiye verletzt worden. Wir hatten einen massiven Angriff gestartet und der Feind hatte hohe Verluste. Als klar war, dass er auf diese Weise verlieren würde, haben die Luftangriffe begonnen. Unser Willen war stärker als ihre Flugzeuge. Wir sind nicht weggelaufen. Akif, Yilmaz und Derdo haben dort heldenhaft, selbstlos und im Glauben an die Gemeinschaft gekämpft und sind gefallen. Sie haben sich keinen Schritt zurückgezogen und dem Tod die Arme geöffnet.

Wir wissen, wofür wir kämpfen. Wenn es mir besser geht, werde ich wieder meinen Platz neben meinen Freunden an der Front einnehmen. Niemand soll denken, dass YPG-Kämpfer sich zurückziehen, wenn sie verletzt werden. Wir geben den Familien der in Serêkaniyê Gefallenen unser Wort, dass wir die Stadt niemals aufgeben und früher oder später zurückholen werden. Uns kann nur der Tod aufhalten, da bin ich sicher. Wir werden Serêkaniyê zurückbekommen und danach Efrîn. Nachdem so viele Menschen gefallen sind, werden wir unser Land nicht dem Feind überlassen.