„Efrîn wird nicht in den Händen des türkischen Staates bleiben“

Im ANF-Gespräch erklärt Hesen Koçer von der zivilgesellschaftlichen Organisation TEV-DEM: „Unsere Entscheidung ist klar und sicher, wir werden Efrîn befreien. Efrîn wird nicht unter der Kontrolle des türkischen Staates bleiben.“

Am 20. Januar jährte sich die türkische Militärinvasion im nordsyrischen Kanton Efrîn zum ersten Mal. Wir haben in Şehba mit Hesen Koçer, einem Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation TEV-DEM (Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft), über die Ziele des türkischen Staates, die Rolle der internationalen Mächte und den Widerstand der Bevölkerung von Efrîn gesprochen. Koçer sagt, der Widerstand der Bevölkerung der besetzten Region werde geführt, um nach Efrîn zurückzukehren: „Die Bevölkerung Efrîns hat ihre eigene Konferenz abgehalten und die Entscheidung getroffen, Efrîn zu befreien. Daran arbeitet sie und dafür kämpft sie. Das Volk hat sich für den Widerstand organisiert.“

Was war das Ziel der türkischen Invasion und was sagte die Haltung der internationalen Mächte aus?

Lassen Sie uns zunächst einmal folgendes klarstellen: Der Angriff auf Efrîn ist kein eigenständiges Projekt des türkischen Staates, sondern ein gemeinsamer Angriff der Staaten. Die Türkei hätte einen Angriff in diesem Ausmaß allein nicht durchführen können. Wenn Russland seinen Luftraum nicht geöffnet und die USA und Europa nicht geschwiegen hätten, wäre der Angriff für die Türkei nicht machbar gewesen. Vor dem Hintergrund der NATO-Mitgliedschaft und der Interessenspolitik Russlands hat Ankara 25.000 Dschihadisten zusammengezogen und die Region angreifen lassen. Dass die türkische Regierung in politischer Hinsicht nicht die Kraft hatte, den Angriff allein zu tragen, gilt auch für ihre Armee.

 

In Efrîn sollte die demokratische Struktur und die Stabilität zerstört werden. Wenn ein Angriff auf einen Ort erfolgt, an dem die Menschen in Frieden und Demokratie leben, dann hat die ganze Menschheit verloren. Der türkische Staat wurde ermutigt und hat angegriffen. Für den türkischen Staat lautet gilt ohnehin die Devise; ‚Wo immer es Kurdinnen und Kurden gibt, müssen sie vernichtet werden.' Am ersten Tag der Invasion griffen 72 Flugzeuge Efrîn an. Die Bevölkerung von Efrîn erlebte ein großes Massaker. Viele Zivilisten, Frauen, Kinder und Alte sind gefallen.

In Efrîn wurde 58 Tage Widerstand geleistet. Die Bevölkerung bestand bis zum letzten Augenblick darauf, die Region nicht zu verlassen. Was zwang sie zur Evakuierung?

Die Bevölkerung von Efrîn hat ihre Menschlichkeit, ihre Demokratie, ihre Existenz, ihre Kultur und ihre Moral verteidigt. Sie hat einen großen Widerstand gezeigt. Der türkische Staat war mit einem Vernichtungsplan einmarschiert. Der türkische Staat, der den Terrorismus aufgebaut hat und unterstützt, belog die ganze Welt mit seiner Behauptung, er bekämpfe den Terror. Eigentlich wussten alle, dass es sich dabei um eine Lüge handelte. Im Interesse ihres wirtschaftlichen und politischen Vorteils haben die internationalen Kräfte und Staaten keine Haltung gegenüber dem türkischen Staat bezogen. Bei uns wurden fast fünfhundert Zivilist*innen getötet. Unzählige unserer Kämpfer*innen sind gefallen. Am Ende musste die Entscheidung zur Räumung von Efrîn gefällt werden, da die Welt hat geschwiegen hat und der türkische Staat kam, um die Bevölkerung zu vernichten. Diese Entscheidung wurde getroffen, um ein großes Massaker zu verhindern. Allein bei einem Angriff auf das Viertel Mehmûdiyê (Mahmudiyah) wurden 35 Zivilist*innen getötet. Das Avrin-Krankenhaus wurde angegriffen. Überall fanden Angriffe statt. Die Bevölkerung hat ihren Widerstand nicht aufgegeben. Sie ist in Şehba zur zweiten Phase des Widerstands übergegangen.

In Şehba hat es vor wenigen Jahren einen heftigen Krieg gegeben und die Mittel der Region sind auch so schon eingeschränkt. Ist es nicht schwierig, Hunderttausende Menschen aus Efrîn in dieser Region zu versorgen? Wie können die Menschen in Şehba weiterleben?

Natürlich hat es einige Schwierigkeiten mit der Evakuierung nach Efrîn gegeben. Zunächst gibt es wenig Ressourcen und es fehlte auch an internationaler Unterstützung. Die demokratisch-autonome Selbstverwaltung von Nordsyrien hat die Menschen aus Efrîn selbst grundversorgt. Das Wichtigste ist, dass die Menschen Efrîns über eine eigene Organisierungskultur verfügen. Sie haben sich hier in Şehba selbstorganisiert und ihre Kommunen und Räte aufgebaut. Die ansässige Bevölkerung hat die Menschen aus Efrîn mit offenen Armen empfangen. Sie hat ihre Häuser geöffnet und auch die hiesige Selbstverwaltung hat bei der Errichtung der Camps große Hilfe geleistet. Die Bevölkerung von Efrîn hat niemals die Hoffnung aufgegeben, zurückzukehren und Efrîn zu befreien. In diesem Sinne unterstützt sie die Befreiungskräfte von Efrîn. Hier heißt es, dass jeder auf seine Art am Widerstand teilnehmen muss. Sogar die Alten aus Efrîn sagen: „Wir wollen hier nicht sterben, wir wollen in Efrîn sterben.“ So stark ist ihre Verbindung mit Efrîn.

Wie wird Efrîn nun verwaltet?

Der türkische Staat versucht Efrîn mit Gewalt und Unterdrückung zu beherrschen. Es hat kein System. Plünderungen, Massaker und Diebstahl sind Ausdruck dieser Systemlosigkeit. Diese Leute können keine Gesellschaft führen. Sie versuchen, die Demografie zu verändern und der Bevölkerung die türkische Sprache aufzuzwingen. Historische Stätten sind vernichtet worden, die Namen vieler Schulen und Orte wurden verändert.

In der letzten Zeit gab es einige Äußerungen des türkischen Staats in Bezug auf das syrische Regime. Was für Pläne kann es in diesem Zusammenhang für die Milizen geben?

Die Milizen glauben, der türkische Staat hätte ihnen in Syrien Gebiete überlassen. Die Dschihadisten, die den türkischen Staat unterstützen und Efrîn und andere Orte in Syrien angreifen, werden das bereuen, der türkische Staat betrügt sie. Im Grunde haben der radikale Islam und die Linie der Muslimbruderschaft keine Chance mehr im Mittleren Osten. Die Milizen müssen das begreifen. Ihr Ende wird nichts anderes sein als Tod und Vernichtung. Sie werden wie Lappen benutzt und weggeworfen werden. Das hat schon angefangen.

Die Bevölkerung von Efrîn leistet für ihre Rückkehr Widerstand. Diese Menschen haben ihre eigene Konferenz abgehalten und die Entscheidung getroffen, Efrîn zu befreien. Daran arbeiten sie und dafür kämpfen sie. Sie haben sich dafür organisiert. Es ist auch unsere Entscheidung, Efrîn zu befreien. Efrîn wird nicht in den Händen des türkischen Staates bleiben.“