In verblüffend kurzer Zeit ist das Assad-Regime nach Jahren des Bürgerkriegs zusammengebrochen. Eine von der Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) angeführte Dschihadistenallianz hatte am Sonntag vor einer Woche den seit 24 Jahren autoritär regierenden Machthaber Baschar al-Assad gestürzt. Die Türkei nutzte die Gunst der Stunde und besetzte zusammen mit ihrem Söldnerverband SNA Tel Rifat und Minbic, nächstes Ziel der Führung in Ankara dürfte Kobanê sein. Währenddessen gewinnt eine weitere Dschihadistenmiliz, der selbsternannte Islamische Staat (IS), in Syrien wieder an Boden. Die Generalkommandantur der Frauenverteidigungseinheiten YPJ warnt vor einem Wiedererstarken des IS:
„Einige dschihadistische Gruppen, die mit der türkischen Besatzung und Organisationen wie Hayat Tahrir al-Sham (HTS) verbunden sind und von internationalen Mächten unterstützt werden, drangen unbehelligt in Damaskus ein. Das 61 Jahre alte Baath-Regime brach innerhalb von nur zwölf Tagen zusammen. Dieser rasche Untergang ist auf das starre Festhalten des Regimes am Status quo und sein Versagen bei der Lösung grundlegender Probleme, insbesondere der kurdischen Frage, zurückzuführen. Hätte die Assad-Regierung den Weg der Demokratisierung eingeschlagen, wäre es heute nicht zu dieser Situation gekommen.
Der scheinbare Sieg der Dschihadisten, die in Damaskus einrückten, wird wahrscheinlich nur von kurzer Dauer sein. Ein neues Syrien, das aus dieser Ideologie hervorgeht, läuft Gefahr, ein weiteres Afghanistan zu werden. Syrien war im Laufe der Geschichte die Heimat verschiedener ethnischer und religiöser Gemeinschaften. Wir beobachten mit Erstaunen, wie bestimmte Gruppen, die die Bedeutung der Scharia nicht kennen, sich diese radikale Ideologie zu eigen machen und dabei die Komplexität der syrischen Gesellschaft und das Potenzial für weit verbreitete Gewalt außer Acht lassen.
Der türkische Staat zählt zu den Hauptverantwortlichen des Konflikts, den das syrische Volk seit nunmehr 13 Jahren ertragen muss. In dieser Zeitspanne haben die Türkei und ihre Söldner wiederholt die Gebiete der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien angegriffen. Der gegenwärtige Angriff auf diese Regionen, die auf den Grundsätzen der Freiheit der Frauen aufgebaut wurden, wird von IS-nahen Gruppen unter dem Dach der sogenannten SNA („Syrische Nationalarmee“) durchgeführt. Es handelt sich um Gebiete, die unter der Führung der YPJ von der Geißel des IS befreit wurden und in eine Oase der Hoffnung und Stabilität verwandelt worden sind, in der verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften friedlich zusammenleben. Dennoch bleibt unsere Region ein Ziel für die türkische Besatzung und ihre Söldner. Diese Gebiete, die von den Frauenverteidigungseinheiten und den Demokratischen Kräften Syriens verteidigt werden, sind nun erneut vom IS und der Republik Türkei bedroht.
Die Kurd:innen, Araber:innen, Drus:innen, Armenier:innen und Aramäer:innen, die an unserer Seite gegen den IS und die türkische Besatzung gekämpft haben, sind nun in großer Gefahr. Diese verschiedenen Gruppen sind integraler Bestandteil der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens und werden vom türkischen Geheimdienst MIT ins Visier genommen. Es wird über einige Stämme versucht, Unfrieden zu stiften und die Völker gegeneinander aufzuhetzen, insbesondere in den Regionen Raqqa, Tabqa und Deir ez-Zor. Als YPJ fordern wir unsere gesamte Gesellschaft und insbesondere die arabischen Frauen auf, trotz der Provokationen standzuhalten und sich nicht in diese zerstörerischen Pläne hineinziehen zu lassen.
Zusätzlich zu dieser gefährlichen Situation plant der MIT offenbar Angriffe auf das Lager Al-Hol und die von uns kontrollierten Gefängnisse, in denen IS-Mitglieder gefangen gehalten werden. Dies würde unweigerlich zu einem Wiederaufleben des IS in unseren Regionen führen. Die Gefahr eines Wiedererstarkens der Terrormiliz wurde bereits durch die Freilassung einiger inhaftierter IS-Söldner aus den von HTS geräumten Regime-Gefängnissen in Kauf genommen.
Das Risiko, dass Syrien unter die Kontrolle des IS oder mit der Organisation verbündeten Gruppen gerät, ist erheblich gestiegen. Der IS versucht de facto bereits, sich unter verschiedenen Namen als ein Projekt der türkischen Besatzungsmacht zu legitimieren. Diese Strategie zielt darauf ab, das Schicksal der Region den reaktionärsten Kräften der Welt anzuvertrauen.
Als Leuchtturm der Hoffnung für die Menschen in der Region und die Menschheit wird Rojava jedoch seinen entschlossenen Widerstand unter der Führung der YPJ fortsetzen und den Kampf für die Frauen und Völker verstärken. Wir stehen vor einer historischen Verantwortung an allen Fronten. Das eigentliche Ziel der Angriffe der Türkei und ihrer aus Überresten des IS rekrutierten Proxytruppe SNA gegen Tel Rifat, Minbic und nun auch Kobanê ist die Besetzung und Annexion von ganz Rojava. Wir rufen daher die Völker und Frauen der Welt auf, ihre Stimme zu erheben und ihrer Verantwortung gerecht zu werden, um diesen terroristischen Angriffen, die die gesamte Menschheit bedrohen, entgegenzutreten.
Alle Mächte der Welt loben den Widerstand der YPJ. Heute ist es notwendig, die Reihen des Widerstands auf globaler Ebene zu erweitern und den Kampf überall auszuweiten, um die Angriffe des faschistischen türkischen Staates zu stoppen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Als YPJ leisten wir in unseren Regionen ungebrochen Widerstand gegen die Angriffe der von Ankara befehligten IS-Banden. Wir werden diesen Widerstand bis zum Ende fortsetzen.“
Titelfoto: YPJ-Kämpferinnen begehen den internationalen Frauenkampftag 8. März © Şopdarên Rojê ya Çandê